Heute beginnen in Kiel die SHMF-Proben für die Johannespassion. Hans-Juergen Fink traf den Regisseur Robert Wilson in Baden-Baden.

Baden-Baden. "Es gibt eine Million Arten, auf einer Bühne zu stehen." Mit einem Ruck schiebt Robert Wilson seinen Stuhl im Restaurant von Brenners Parkhotel nach hinten und springt auf. "Alle hatten fertig studiert. Aber es gab nicht einen ... nicht einen ... der auf der Bühne richtig stehen konnte. Sie können so stehen, oder so, oder so." Er karikiert mit großem Körpereinsatz die Studenten einer Schauspiel-Meisterklasse und zeigt, wie man es nicht machen sollte, wenn man seine Zuschauer in den Bann ziehen will. "Sie haben nie drüber nachgedacht." Man spürt, wie ihn das aufregt. Die Gäste an den Nachbartischen betrachten die Mini-Performance irritiert, einige tuscheln.

Robert Wilson setzt sich wieder, ein großer Mann von Gewicht. Zurückhaltend, aber mit Sinn für Knalleffekte. Ein Theatermann. In Baden-Baden schlägt er sich mit einer Neuinszenierung von Webers "Freischütz" herum. In Kiel bringt er am 9. Juli im Rahmen des Schleswig-Holstein Musik Festivals die Überarbeitung seiner Bühnenversion von Bachs "Johannespassion" heraus. Darüber wollten wir eigentlich sprechen. Ein Gespräch mit Robert Wilson, den alle Welt "Bob" nennt, aber lebt von Umwegen. Detailreiche Argumentationen liegen ihm, aber noch lieber erzählt er in Bildern. Kondensierte Emotionen sind das, jederzeit abrufbar aus dem Regal der Erinnerungen.

So wie diese: "Ich ging zurück nach Texas, als mein Vater an Krebs starb. Ich besuchte einen Nachbarn, dort saß ein Kind und spielte mit seinen Fingern - ich stand für zehn Minuten da und war verzaubert durch die Konzentration dieses Kindes. Bis seine Mutter hereinkam und rief: 'John, what are you doing?'." Der magische Moment versunkener Konzentration hat sich ihm für immer eingebrannt.

Und was hat das nun mit Bach tun? Ganz einfach: Genau dieser Moment sei ihm ins Gedächtnis gekommen, als er anfing, sich über die Johannespassion erste Gedanken zu machen. Diese verzauberte Konzentration - und rund um Bachs Musik die Stille. Nächstes Bild: eine Begegnung im Berliner Zoo, im Dezember, vier Stunden vor seiner Premiere von Marguerite Duras' "La Maladie de la Mort". Wilson spaziert in der kalten Luft - und sieht die Wölfe. "14, 15 standen da - mit wunderbaren Augen und silbergrauem Fell. Ich bewegte mich nicht, sie bewegten sich nicht. Ich hatte das Gefühl, als sei ich Teil des Rudels. Sie schauten mich an. In kompletter Stille. Nach sieben, acht Minuten kam der Wärter und sagte: 'Wir schließen' - die Spannung war gebrochen." Bob Wilson lehnt sich zurück. Wieder so ein kleines Theaterstück. Und sein Zuhörer sucht weiter den Weg zu Bach.

"Meine Frage war: Wie können Sänger nichts machen? Nur stehen wie ein Rudel Wölfe, und eine solche Spannung aufbauen? Wie können wir als Gruppe von Künstlern, Musikern und Technikern ein Gemeinsames sein und zuhören? Wie die Wölfe, mit dem ganzen Körper?" Sein tauber afroamerikanischer Adoptivsohn habe auch Klänge mit dem Körper aufgenommen. "Es ging mir um den Weg des Zuhörens bei der Johannespassion. Kann ich etwas auf die Bühne bringen, das mir hilft, besser zu hören als mit geschlossenen Augen? Überall ist auf der Bühne so viel los, dass man die Musik kaum noch wahrnimmt." Wer Wilsons Hamburger "Parsifal" kennt, erinnert, wie er mit extremer Langsamkeit und reduktiver Klarheit dagegen arbeitet.

Sprunghaft fügen sich seine Geschichten-Bilder zu Gedankenfeldern mit Kontur, Präzision, Ausdruckskraft. Bilder sind sein Gedächtnis und Archiv, so wie seine großartige Sammlung menschlicher Skulpturen eine Bibliothek von Gesten ist, seine Sammlung unterschiedlichster Sitzgelegenheiten ein grandioses Buch der Formen. Bizarre Gesten und Formen, Musik, feinaustariertes Licht, stilisierte Bühnenbilder - das sind die Markenzeichen, mit denen Wilson zum weltweit gefragten Theaterzauberer wird.

Strukturen und Formen hatte er schon früh in Notizbüchern gezeichnet - als suche er darin den Halt, den er von seinem kulturfernen und religiösen Elternhaus nicht annehmen konnte. "Theater galt dort als Haus von schlechtem Ruf, und es war peinlich, dass Abraham Lincoln in einem erschossen wurde. Aber es gab sowieso keines in unserer Nähe." Er studierte Architektur und lernte, die Gedanken vom Komplizierten zum Einfachen zu ordnen. Dieser Ordnungsdrang hilft ihm immer wieder, das Zentrum zu finden.

Er zieht einen Bleistift aus der Tasche und zeichnet zwei Rechtecke. Eines füllt er mit einer wirr verschlungenen Linie, in das andere setzt er einen Punkt. "Was wirkt größer und wichtiger?" Pause. "Der Punkt." So wie die Gestik von Marlene Dietrich in einem ihrer letzten Chansonabende: "Sie hat drei Songs lang nicht ihre Arme bewegt. Und am Ende des dritten Songs ging die rechte Hand ein bisschen zur rechten Seite, sie öffnete die Finger ein wenig. So geht das."

Bei Wilson ist der Weg immer schon ein gutes Stück vom Ziel. Seine Gedanken wandern, die Erklärungen mäandern. Am Ende merkt man, dass man über viele Stationen im Kreis um eine zentrale Idee herumgeführt wurde.

So wie bei unserem Thema Bach. "Seine Musik ist so architektonisch. Sie hat etwas von den klassischen Formen, die immer bleiben." Die Liebe zu Bachs Musik lernte er bei einem Onkel, der in New Mexico sehr spartanisch in einem Ziegelhaus lebte. Derselbe, der ihm auch den ersten Stuhl schenkte, den Auslöser für die spätere Sammelwut. Wie kommt er, der Nicht-Religiöse, mit Bachs tief religiös geprägter Musik klar? "Das ist für mich wie bei Wagners 'Parsifal' - der ist auch nicht religiös oder katholisch, er ist ein spirituelles Event. Wagner interessierte sich für den Zen-Buddhismus. 'Parsifal' ist nicht christlich. Nike Wagner sagte mir: 'Nimm die ganze Religion heraus. Religion entzweit die Menschen - Spiritualität ist etwas ganz anderes.'" Zen ist auch ihm nah, die Distanz zu den Vorgängen. "Das bedeutet nicht, dass man keine Gefühle hat. Aber es meint, dass man nicht auf ihnen besteht."

Jetzt gerät Bach weit in den Hintergrund, das Gespräch rankt sich von frühkindlicher Körpersprache über Charlie Chaplin zu Shakespeare und löst dort die pathetische Rezitation eines vor vielen Jahrzehnten gelernten "Hamlet"-Monologs aus. Die Kellnerin versucht das elegant zu überhören, unsere Reise ist da schon nach Oberammergau zu Wilsons Kreuzweginstallationen weitergegangen, um gleich darauf bei Barack Obama haltzumachen, den er mit dem Blick des Theatermanns lobt: "Es ist der Ton seiner Stimme, seine Art zu gehen. Er spricht mit den Leuten, nicht zu ihnen - wie ein wirklich großer Schauspieler."

Eine steile Kurve führt noch einmal zurück zur ewigen Herausforderung, eine Struktur zu finden - und zu Bach. "Das Wesentliche sind immer Raum und Zeit. Zeit ist für mich eine Verbindung zum Mittelpunkt der Erde und eine vertikale Linie. Raum ist eine horizontale Linie. In diesem Konstrukt liegt die Keimzelle für alles." Bei seiner Johannespassion bewegen sich wie in einer ewigen Suche im Hintergrund permanent Balken. Nur manchmal bilden sie Kreuze.

Die radikale Reduktion auf eine Struktur, die dann den Inhalt trägt, finden Kritiker immer mal wieder befremdlich. Für Robert Wilson ist sie das geistige Zentrum, in dem seine Arbeit ihre Wurzel hat. Das, was ihn so einzigartig macht. "Ich habe nie Theater studiert", sagt er, als im Restaurant längst Ruhe eingekehrt und die Parklandschaft vor dem weit geöffneten Panoramafenster längst im Dunkeln versunken ist. "Und wenn ich es studiert hätte, würde ich nicht das tun, was ich tue."

Robert Wilsons Johannespassion, Opernhaus Kiel, ab 9.7., 20 Uhr, Kartentelefon: 0431/57 04 70