Die Eröffnung der 35. Hamburger Ballett-Tage in der Staatsoper verlief friedlich und applausfreudig.

Hamburg. - Keine Saalschlacht erschütterte das Theater wie 1913 in Paris bei Vaslaw Nijinskys Choreografie "Le Sacre du Printemps" auf die Musik von Igor Strawinsky. Dieses Werk, rekonstruiert in historischer Form, verband John Neumeier mit der konservierten Fassung von George Balanchines Ballett von 1929, "Der verlorene Sohn" (Musik: Sergej Prokofjew) und der eigenen Deutung von "Le Pavillon d'Armide" zur für ihn und die Tänzer triumphalen "Hommage aux Ballets Russes".

Ungeachtet deutlichen Unbehagens etlicher Zuschauer gegenüber den "altmodischen" Schaustücken einer vergangenen Ballett-Epoche, die einst zum Waghalsigsten gehörten, was Tanz, Kunst, Kostüme und Komposition zu bieten hatten. Haben diese Werke einen Bart wie die alten Männer bei Nijinsky und Balanchine? Nein, sie sind aufregend in der Zuordnung historischer, fast vergessener Zusammenhänge. Das macht diesen Abend unverzichtbar, zumal die Tänzer und die Philharmoniker unter der Leitung von Klauspeter Seibel Außerordentliches leisten.

Schon um einer Szene willen ist "Der verlorene Sohn" unvergesslich. Wenn der greise Vater seinen in Fetzen gehüllten Sohn (überragend: Alexandr Trusch) wie ein Kind aufhebt, in seinen Mantel hüllt und davonträgt. Balanchine hat hier mit seiner expressionistischen Sprache - Räuber als Beutetiere, die wie Insekten hüpfen, angeführt von der Sirene der Hélène Bouchet - vorweggenommen, was andere ihm nachgemacht haben.

John Neumeier dagegen zieht wieder aus der Figur des Wundertänzers Vaslaw Nijinsky und der Musik Nikolai Tscherepnins kreative Kraft. Wieder sind es Erinnerungen an Rollen, seine St. Petersburger Schulzeit, Menschen, die ihn lieben, die den vom Wahnsinn Befallenen heimsuchen. Das Ballett mit Otto Bubenicek bewegt sehr, selbst wenn sich hier viel Paarlauf als Leerlauf darstellt. Das "Sacre"-Zitat am Ende hätte Tscherepnin nicht amüsiert. Er und Strawinsky waren sich spinnefeind. Doch es leitet über zu einer der bahnbrechendsten Choreografien, die in ihrer brutal-dramatischen Wucht den Atem nimmt. Mit einer fabelhaften Silvia Azzoni als jungfräuliches Opfer.

Eine Bildergalerie zur Eröffnung der Ballett-Tage steht unter www.abendblatt.de/kultur-live