Im Sommer 1979 kam der erste Walkman auf den Markt und wurde ein Welterfolg. Das mobile Tonbandgerät revolutionierte die Art, wie Musik konsumiert wurde. Im Vergleich zu heutigen MP3- Playern ist der Walkman aber längst so antik wie ein Faustkeil. Die CD-Sammlung von gestern löst sich in mühelos tragbare Bits auf.

Hamburg. Vielleicht treffen sich die letzten Unbekehrbaren irgendwo konspirativ am Stadtrand, im Wald oder im Schutz der Dämmerung. Sie haben ihre liebhabergepflegten Walkmen in anschmiegsamen, handgenähten Lederhüllen dabei und spielen sich antike Pop-Klassiker aus der "Internationalen Hitparade" des NDR vor, die sie vor Jahrzehnten eigenhändig aufgenommen haben. Nach 60, 90 oder 120 Chromdioxidband-Minuten spulen sie wieder zurück, seufzen ein letztes Mal wohlig und gehen wieder ihrer Wege. Zurück in die durchdigitalisierte Welt. Sie sind vielleicht von gestern. Aber sie sind glücklich.

Über den Walkman von Sony nachzudenken, der vor 30 Jahren erfunden wurde, hat etwas rührend Vorvorgestriges. Er entstand, weil ein Sony-Boss auf seinen langen Dienstflügen partout Musik seiner Lieblingskomponisten Bach und Beethoven hören wollte. Der Wunsch wurde ihm 1979 von den Legionen seiner namenlosen Schrauber erfüllt. Sie bastelten ihm das, was zwei Jahre zuvor der Deutsche Andreas Pavel ganz ähnlich als "körpergebundene Kleinanlage für die hochwertige Wiedergabe von Hörereignissen" zum Patent angemeldet hatte. Der Rechtsstreit zwischen David und Goliath sollte sich jahrzehntelang hinziehen.

Die Kassettenhülle der Pandora war damit geöffnet. Nur wusste das damals noch keiner.

Heute sind wir weiter und klüger.

Während diese Zeilen entstehen, steht links neben dem digitalen Texterfassungsgerät ein iPod in seiner Klangmuschel und läuft und läuft und läuft. 9112 Titel, sagt die Anzeige, unterwürfig den nächsten Befehl abwartend. Musik, die für Wochen digitaler Musikbeschallung reichen dürfte. Eine Plattenregalwand aus Bits und Bytes für die Hosentasche. Ein personalisiertes Geschmacks-Silo, in dem alles Platz finden kann, was einen Musik hörenden Menschen mit emotionaler Einzigartigkeit versorgt und gleichzeitig vor den Ohren seiner Zeitgenossen definiert.

Wagners "Ring" und alle anderen seiner Opern warten nur einen Klick neben Prince, HipHop-Kracher neben Renaissance-Madrigalen. Schlaumeier-Pop von Blumfeld parkt neben tränentreibend schönen Händel-Arien, epische Coltrane-Soli neben Chopin-Balladen. Obskures Zeug, dem in einem schwachen Moment digitales Asyl auf einem stillen Sektor der Festplatte gewährt wurde, neben oft gespielten Lieblingen, die trotzdem nicht abnutzen oder verkratzen. 7,7 von 80 Gigabyte sind noch frei. Eigentlich aber nur deswegen, weil die Zeit fehlt, noch militanter aufzufüllen, auszumisten, durchzuhören und lieb zu gewinnen.

Ein iPod hat keine Stopptaste. Ein iPod kennt nur Pause oder Weiter. Ein Zufall ist das nicht. Er ist, wie mehr und mehr von uns, auf Dauerbetrieb und chronischen Output ausgelegt. Kein Mensch "braucht" Tausende von Musikstücken, wo immer er ist. Aber die Zahl derer, die glauben, ohne diese Massenhaltung nicht durch den Tag oder die Nacht zu kommen, wächst unaufhörlich. Die "situative Gefühlsapotheke" iPod hält für alle Lebenslagen Schlaf-, Aufputsch- oder Schmerzmittel bereit. Je nach Ausmaß von Sammler- und Jägertrieb in homöopathischen oder in Überdosen. Die Risiken sind gering, die Nebenwirkungen jedoch gewaltig. Denn wer heute noch denkt, ein MP3-Player sei nur ein handliches Musikverdichtungs-Spielzeug für das bisschen Musikgenuss zwischendurch, der irrt gewaltig. Der kleine Freund ist eine perfide perfektionierte Mischung aus Kulturrevolutionär, Geldmaschine, Jobkiller, Lifestyle-Zubehör und Innenarchitekt.

Elektronische Text-Verpackungen wie der "Kindle" haben gerade erst damit begonnen, Bücherregale aus dem kulturellen Gesamtgedächtnis zu entfernen und der Literatur-Branche existenzielle Schrecken einzujagen. Bald, sehr bald werden die Zeiten vorbei sein, in denen es schick war, Wände mit echten Bücherrücken zu tapezieren. Der iPod, Prototyp aller winzigen Speicherriesen, hat das bei den CDs bereits geschafft.

Sie sind inzwischen so veraltet wie Vinyl oder haben sich schon ganz in Datenpakete aufgelöst. Steve Jobs, Chef von Apple, hat ganze Arbeit geleistet bei seiner Suche nach dem lukrativen "next big thing". Wenn die branchenkrisengebeutelten Macher der gerade abgesagten Berliner Fachmesse "Popkomm" sich damit nicht unsterblich blamieren würden, müssten sie eigentlich eine riesige Schadenersatzrechnung zu ihm nach Kalifornien schicken.

Wer heute jung ist oder sich so fühlt, kann es, über die Ohren an die statussymbolische weiße Nabelschnur angeschlossen, beliebig lang bleiben. Er weiß dann aber bald nur noch aus Erzählungen, wie es ist, einen Plattenladen ziellos zu betreten und einen willenlosen Kaufrausch später mit prall gefüllten Taschen voller frischem Glück zu verlassen. Das geht auch online, legal oder illegal? Klar geht das. Ist aber etwas ganz und gar anderes. Dass der in Ehren ergraute Großkritiker Joachim Kaiser neuerdings Fragen zur Klassik auf der Homepage seiner Zeitung beantwortet, während er vor dem heimischen LP-Regal sitzt, darf wohl auch als Demonstration alter Schule gegen den Zeitgeist verstanden werden.

Man kann alles das natürlich tragisch finden, toll oder brutal. Ändern kann man es ohnehin nicht mehr. Aber man kann die Chance erkennen, die diese Entmaterialisierung von Musik bietet. Sie macht nicht gleich. Sie macht neugieriger und unvoreingenommener gegenüber Musik, weil sie so einfach da ist. Besonders schön hat das Alex Ross formuliert, der lange für die "New York Times" und den "New Yorker" schrieb: "Es gibt keine Plattenhüllen mehr, die bombastische Alpenbilder zeigen oder Dirigenten, die aussehen wie Rudolf Hess. Stattdessen ist Musik Musik."