Carsten Jung hat hart kämpfen müssen für seine Karriere. Im Hamburg Ballett von John Neumeier ist der gebürtige Dresdner jetzt Erster Solist.

Hamburg. Manchmal, wenn man Carsten Jung gegenübersitzt, wenn er von seiner Familie erzählt, dem Haus mit Garten in Barsbüttel oder den aktuellen Spritpreisen, dann ist es schwer, sich darauf zu konzentrieren - dass dieser Mann ein Tänzer ist. Carsten Jung blickt auf. "Ja, ich muss das auch nicht haben", sagt er und streckt im Garten des Ballettzentrums John Neumeier die Fußspitzen Richtung Rasen. "So die Beine extrem nach außen drehen beim Gehen, könnte ich ja machen, klar, kein Problem. Aber wozu?"

Ja, wozu denn auch. Muss sich ja nichts mehr beweisen, dieser Mann. Schon gar nicht nach dieser Saison. Denn in der hat Carsten Jung, Tänzer beim Hamburg Ballett, alles erreicht, was er sich jemals in seinem Beruf und im Leben erträumt hätte: Er ist Erster Solist, Träger des Tanz-Oscars, Vater zweier Töchter, Nachbar, Motorradfahrer (die Spritpreise!), ja im Grunde: der Trucker unter den Balletttänzern. Aber was ist Ballet auch anderes als tägliche Schwerstarbeit? Der Vater von Carsten Jung war Schweißer, seine Mutter Keramikmalerin. Wenn Carsten Jung das Wort "Schinderei" in den Mund nimmt, dann weiß er, wovon er spricht. Denn im Tanz ist ihm selbst auch nie etwas in den Schoß gefallen.

Heute ist Jung 36 Jahre alt, und wenn am Sonntag die 38. Hamburger Ballett-Tage beginnen, dann tanzt er auch wieder Liliom, die Titelrolle, die ihm John Neumeier voriges Jahr auf den Leib geschneidert hat. Dafür hat Jung vor Kurzem den Prix Benois gewonnen, den höchsten Preis in der Welt des Balletts. "Ja, was soll denn jetzt noch kommen", sagt Jung, streicht über seinen Dreitagebart und blinzelt in die Hammer Junisonne. Ein Moment wie ein Déjà-vu. Es gibt eine Videoreportage über ihn, drei Jahre ist die alt, da klingt er bereits genauso: ganz bei sich und sehr zufrieden. "Vielleicht ist das ja, weil ich aus dem Osten bin", sagt er, und sein sächsischer Dialekt gibt diesem Satz einen sehr schönen Klang.

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Von Dresden aus ist er Anfang der 90er aufgebrochen. Mit dem Zug nach Hamburg, eine Nacht- und Nebelaktion, nicht einmal seine Mutter wusste davon. Ein befreundeter Tänzer hatte ihm von Neumeier erzählt, und dann wollte er vortanzen, versackte am Abend zuvor im Gröninger Bierkeller, nicht, weil er leichtsinnig war und ein Überflieger, nein: Es war einfach dieser Moment. In Hamburg sein, alles spüren. Den Hafen, die Stadt, die Möglichkeiten. Was für eine Geschichte. Jung winkt ab, "am besten nicht schreiben", soll das heißen, aber es stand ja schon in der Zeitung, also warum verheimlichen. Ja, wozu denn auch?

Carsten Jung hat ein schönes Gesicht. Kein fein gezeichnetes, kein Bühnenprinzengesicht, aber ein weiches, freundliches. Auf der Bühne kann das anders sein, vor allem, wenn er die Rollen tanzt, die kaum einer beherrscht wie er: die Schläger, die Brutalos. Dann schiebt sich sein Kinn vor, und alles, sein Körper, sein Blick, strahlt eine Verachtung aus, die einem Angst macht. Tanz so etwas mal - in einer Welt, die seit jeher von noblen Gesten geprägt ist, von erhabenen Gentlemen und unverstandenen Helden.

Aber Jung kann sie tanzen. Kann sie leben. Ein Prinz war er ja selbst nie, eher einer der Malocher. Ein Arbeiter an sich selbst. "Ich habe halt immer ein bisschen länger gebraucht", sagt er. "Ich weiß auch nicht, warum. Doch das ist ja auch nicht immer schlecht. Bis heute denke ich mir: Jetzt sind die, die es leicht hatten, vielleicht schon satt. Und ich bin nicht satt."

Für Jung kam das Tänzerglück spät. Aber es kam. Ganz groß, als er im Mai mit Alina Cojocaru im Moskauer Bolschoi-Theater den Prix Benois de la Danse entgegennahm. Alina Cojocaru ist Erste Solistin beim Royal Ballet in London, sie ist ein Weltstar. Und schon immer hat Jung die Frauen, mit denen er auf der Bühne stand, wie unsichtbar zum Schweben gebracht. In "Liliom" tanzt Cojocaru eine Frau, die dem brutalen Karussellschreier Liliom verfällt und ein Kind von ihm bekommt. Zur Preisverleihung tanzten beide den Pas de Deux aus Neumeiers Ballett. "Wow - you've really lived it", sagten die anderen Tänzer danach zu ihnen, erzählt Jung, "ihr habt das ja richtig gelebt."

Seine Beine liegen inzwischen nicht mehr auf der Bank, sie stehen auf dem Boden. Seine Faust klopft auf die Tischplatte. "Ja, aber deswegen bin ich ja hier", sagt er laut und fast eindringlich, "deswegen bin ich in der Compagnie! Nicht nur, um tolle Bewegungen zu machen. Um etwas zu erzählen, etwas rüberzubringen." Für viele, die Berührungsängste mit dem Ballett haben, ist das ja das lächerlich Blöde an dieser Kunst - dass da Menschen, vor allem Männer, einfach schöne Bewegungen machen. Man würde die so gern mal in ein Ballett mit Carsten Jung schicken.

Zwei Zigaretten später steht Jung auf. In fünf Minuten ist Probe, er möchte pünktlich sein. Er nimmt seinen Teller mit den Resten des Nachtischs. Er geht Richtung Kantine, ganz normal. Sagt den Tänzern des Bundesjugendballetts Hallo. Kein großer Abgang. Ja, wozu denn auch?