Wenn Elvis Costello am 3. Juni mit Band in Hamburg spielt, entscheidet ein Glücksrad über die Auswahl der Songs. 150 Titel stehen zur Verfügung.

New York. Er ist in der Hansestadt seit mehr als zehn Jahren nicht mehr live aufgetreten: Am 3. Juni kommt Elvis Costello im Rahmen seiner "Spinning Wheel"-Tour zu einem einzigen Deutschland-Konzert ins CCH. Das Abendblatt hat mit dem 57 Jahre alten Musiker in New York gesprochen, wo er mit seiner Frau, der Pianistin Diana Krall, und seinen beiden Kindern lebt. Im 35. Stock des Hotels Mandarin Oriental mit einem herrlichen Blick auf den Central Park begegnet uns ein grundsympathischer und freundlicher Mann mit Hut und der typischen Brille. Nach dem Interview hat Costello einen Zahnarzttermin. Sollte er während des Gesprächs Zahnschmerzen haben, lässt er sich das zumindest nicht anmerken.

Hamburger Abendblatt: Mr. Costello, Sie können auf eine 35 Jahre dauernde Karriere zurückblicken. Würden Sie diesen Weg heute so noch einmal gehen?

Elvis Costello: Mein Großvater war Musiker, mein Vater ebenfalls. Es liegt so etwas wie eine Berufung in meiner Familie. Aber ich weiß nicht, ob ich heute noch mal beginnen möchte, weil die kommerziellen Umstände immer schwieriger geworden sind. Mit Berufung allein schafft man es nicht. Ich habe sicher Glück gehabt, aber ich arbeite auch hart dafür, vielleicht härter als andere.

Aber einen guten Song zu schreiben hat nichts mit harter Arbeit zu tun. Man muss ein besonderes Gespür haben ...

Costello: Harte Arbeit gehört auch dazu. Das Songschreiben steht bei mir gerade nicht an erster Stelle, sondern die Auftritte. Ich habe so viele Songs geschrieben, dass ich eine Woche lang spielen könnte, ohne mich zu wiederholen.

Spüren Sie nicht den Zwang, Erfahrungen und Erlebnisse immer wieder in neue Songs zu packen?

Costello: Ich glaube nicht, dass ich dauernd über mein Leben berichten muss. Ich bin kein Nachrichtensprecher, sondern ein Songschreiber. Viele Dinge wie der kürzliche Tod meines Vaters sind zu persönlich, um darüber zu schreiben. Manchmal braucht es den Abstand von zehn Jahren, um gewesene Ereignisse emotional in einem Lied zu reflektieren. Es geht weniger um eine hemmungslose Preisgabe, sondern mehr um eine allgemeingültige Essenz.

Ihr Vater stand Ihnen sehr nahe.

Costello: Ja. Ich habe von ihm eine Menge gelernt, obwohl ich als Musiker einen ganz anderen Weg eingeschlagen habe, als er es getan hat. Mein Vater hat in den 50er- und 60er-Jahren in verschiedenen erfolgreichen Jazzorchestern gesungen und Trompete gespielt. Er wusste sehr genau, wie man eine Show zusammenstellt.

Haben Sie manchmal das Gefühl, dass er Ihnen von oben zusieht?

Costello: Es gibt Momente, in denen man so etwas fühlt oder heraufbeschwören möchte. Aber wichtiger als das Gefühl, dass er mich weiter beobachtet, sind all die Dinge, die er mich gelehrt hat. Ich habe ihn als Kind oft auf der Bühne erlebt oder ihn im Radio gehört. Das war sehr prägend, auch in Hinblick auf meine musikalische Sozialisation.

Mit welcher Musik sind Sie denn groß geworden?

Costello: Vor allem mit Jazz. Als Teenager dann mit britischer Beatmusik. Ich habe damals viel Singles gehört: von den Beatles, den Hollies, den Kinks. Erst als ich 16 war, habe ich meine erste Langspielplatte gekauft. Rock 'n' Roll und Elvis Presley habe ich erst durch die Beatles entdeckt.

Auch wenn Sie die Trauer um Ihren Vater aktuell nicht in einem Lied ausgedrückt haben, gab es doch Ereignisse, in denen Sie sehr schnell als Musiker reagiert haben, wie in "Shipbuilding", das 1982 während des Falklandkrieges geschrieben wurde. In Ihrem jüngsten Album "National Ransom" behandeln Sie ebenfalls gesellschaftspolitische Themen. Im Titelsong heißt es: "Wir arbeiten jeden Tag, um das nationale Lösegeld zu bezahlen." Was bedeutet das?

Costello: Der Titel "Nationales Lösegeld" macht deutlich, dass es um eine Betrachtung der merkwürdigen Umstände geht, dass eine kleine Gruppe von nicht sehr ehrenhaften Leuten in den Rating-Agenturen über den Wert einer ganzen Gesellschaft entscheidet. Aber wir sind alle Teil des Problems, weil wir etwas wollten, das wir uns nicht leisten konnten.

Ist der böse Wolf auf dem Cover von "National Ransom" der böse Börsenspekulant?

Costello: Es ist einfach, mit dem Finger auf den bösen Wolf zu zeigen, aber wir befinden uns leider nicht in einer schwarzen Komödie. Die Wirklichkeit ist leider sehr viel komplizierter. Wir stecken in einem Dilemma, das nicht leicht aufzuschlüsseln ist.

Werden diese neuen Songs Hauptbestandteil der aktuellen Tournee sein?

Costello: Nein. Die "Spinning Wheel"-Tournee basiert auf dem Zufall und den Entscheidungen des Publikums.

Das Konzert als Wunschkonzert also?

Costello: In gewissem Sinne, ja. Es gibt ein Glücksrad auf der Bühne, das Zuschauer drehen dürfen. Der Song, bei dem das Rad stehen bleibt, den spielen wir dann. Es ist ein Element von Vaudeville-Shows, das mir sehr gut gefällt. Wir haben zum Beispiel auch eine Tänzerin in einem Käfig auf der Bühne, was vielleicht bei einigen Leuten Anstoß erregt. Aber wir nehmen uns mit dieser Show auch selbst auf die Schippe.

Wie viele Titel haben Sie vorbereitet?

Costello: Etwa 150 aus meiner ganzen Karriere. Mit Steve Nieve, unserem Keyboarder, und Schlagzeuger Pete Thomas spiele ich schon seit den 70er-Jahren zusammen. Die kennen die Songs. Für zwei oder drei Songs, die ich länger nicht gesungen habe, stelle ich einen Notenständer auf. Aber das ist die Ausnahme.

Sie scheinen zurzeit sehr gefragt zu sein. Sie waren an vielen verschiedenen Projekten beteiligt, wie "Chimes Of Freedom", einer Tribute-CD für Amnesty International, oder dem Konzert zum 100. Geburtstag des Blues-Musikers Robert Johnson.

Costello: Das täuscht. Ich nehme nicht an vielen großen Events teil. Dieses Jahr zum Beispiel war ich bei den Grammys nur als Zuschauer, weil meine Frau Diana Krall dort zusammen mit Paul McCartney aufgetreten ist. Diese Zuschauerrolle hat großen Spaß gemacht. Und beim Konzert für Robert Johnson, einem meiner ersten öffentlichen Auftritte nach dem Tod meines Vaters, herrschte ein besonderer Geist, und es war ein Stück Trauerarbeit. Jetzt kann ich wieder auf die Bühne zurück.