Vom Kindergarten bis zum Abitur: Die liebevolle Langzeitdokumentation “Die Kinder von St. Georg“ begleitet die Protagonisten beim Erwachsenwerden.

Hamburg. Die Zahnspange ist einem blitzsauberen Lächeln gewichen. Ein Rasierer muss her, um die sprießenden Barthaare zu trimmen. Die tagtäglichen Liegestütze unter dem Robbie-Williams-Poster haben sich bezahlt gemacht, bringen Armmuskeln zum Vorschein, wo vorher nur ein magerer Kinderkörper war. Und in der Stimme, die gestern noch piepste und kiekste, klingt feierlicher Ernst mit bei dem Satz: "Ich wünsche mir, dass meine Noten noch besser werden, damit ich mir aussuchen kann, was ich nach dem Abitur mache."

Geht so Erwachsenwerden? Der Abschied von der Kindheit, so viel steht fest, vollzieht sich in Millionen kleinen Schritten. Die Filmemacher Hermann Lorenz und Leslie Franke haben in ihrer Langzeitdokumentation "Die Kinder von St. Georg" fünf junge Menschen auf ihrem Weg von der Spielplatzrutschbahn bis zum Kerzenausblasen auf der Torte zum 18. Geburtstag begleitet, darunter die eigene Tochter. Haben festgehalten, wie Freundschaften geschlossen, gefestigt, gebrochen werden. Wie der Traum von einer Karriere im rosa Ballett-Tutu dem Wunsch weicht, dem Leben einen tieferen Sinn abzutrotzen - oder einen Frankreichaustausch, einen Rucksacktrip.

Sie heißen Klara, Freya und Nevena, Felix und Mitchel und sind im Hamburger Stadtteil St. Georg aufgewachsen, der das Image des Problemviertels beinahe abgestreift und sich im Lauf der jahrelangen Dreharbeiten - begonnen im Herbst 1999 - zum Szenebezirk gemausert hat. Frühstücksmüsli und Feierabendbier haben die fünf Protagonisten nicht im stillen Kämmerlein eingenommen, Pubertätsfrust und Schwärmereien mit Tausenden Zuschauern geteilt. "Erste Schuljahre", der erste Teil der Dokumentation, lief 2004 erstmals im Fernsehen, an diesem Donnerstag ist er erneut auf Arte zu sehen. Eine Woche später folgt die Fortsetzung "Die Jugendjahre".

Der Charme der Filme liegt in der Unvoreingenommenheit, in der Menschenfreundlichkeit. Die Macher wissen nicht schon von vornherein, was sie erzählen wollen; ihr Blick auf die Kinder ist dokumentarisch im besten Sinne: beobachtend statt inszeniert, abwartend, nicht wertend. Als habe jemand vergessen, die Stopp-Taste zu drücken, und hinterher erstaunt festgestellt, welche Wundertüte sich auf dem Band verbirgt. Das Defa-Projekt "Die Kinder von Golzow", die Chronik einer brandenburgischen Landschulklasse, stand Pate für diesen aufwendigen Blick durchs Schlüsselloch auf eine Welt, die sonst verborgen bleibt. Aus Hunderten Stunden Interviewmaterial haben Lorenz und Franke zwei 90-Minüter zusammengeschnitten, die mehr über die Jugend von heute erzählen als jede Shell-Studie.

In Zeiten, in denen man problemlos einen eigenen Abspielkanal einrichten könnte für all die Reality-Soaps, die über die verschiedenen Sender flimmern, kommt "Die Kinder von St. Georg" umso ungewöhnlicher daher: Nicht die Pointe ist das Ziel, sondern die Besonderheit im Alltag. Die schönsten Momente gelingen dem Film dort, wo er scheinbar unspektakuläres Geplänkel abbildet, Nonsens und Small Talk, die doch so viel verraten über die Urheber. Etwa wenn Klara, Freya und Nevena im Coffeeshop in der Langen Reihe sitzen, mit ihren Strohhalmen Luftblasen in den Kakao pusten und überlegen, wie sich das anfühlt mit den Jungs und dem Verliebtsein. Man vermag nicht zu sagen: Sind diese Wesen nicht mehr Mädchen und noch nicht Frau? Oder längst schon Frau und immer noch Mädchen?

Ihre Seelen - oder was sich sonst auf dem Grund ihrer Blicke verbirgt - sind eine weiße Leinwand, die darauf wartet, dass das Leben seine Lichter und Schatten darauf wirft. Die Sternschnuppen und die Schwarzen Löcher.

Nevenas Eltern etwa, bosnische Flüchtlinge, müssen um ihre Aufenthaltsgenehmigung fürchten; Freya leidet unter der Trennung der Eltern; Mitchel versumpft tagelang bei Ballerspielen vor dem Computer. Rebellion, dem Spiegelbild die Zunge rausstrecken, richtig schön schlechte Laune haben wechselt sich ab mit Glücksmomenten, kleinen und großen: Spaghettiessen auf der Terrasse mit Blick über Hamburgs Dächer, gemeinsames Gurkenmaskenauftragen beim Mädelsabend, in den Arm nehmen, Bestnote beim Abi.

Vielleicht ist der beste Beleg für den Erfolg dieser Dokumentation, dass man hinterher den dringenden Wunsch verspürt, noch einmal jünger zu sein. Jung zu sein. Und im nächsten Moment denkt: bloß nicht.

"Die Kinder von St. Georg - Erste Schuljahre" Donnerstag, 23.30 Uhr, Arte. Die Fortsetzung, "Die Jugendjahre" läuft am 24. Mai, 23.30 Uhr, Arte.