Staatenlos, ungültige Papiere, ohne Sprachkenntnisse: Was das Schicksal des Hamburger Nachkriegsbürgermeisters uns heute sagen kann.

Kürzlich prangte an einem Containerwürfel auf St. Pauli ein großes Foto von Max Brauer unter der Überschrift „Refugees Welcome“. Die Initiatoren wollen eine Willkommenskultur für Flüchtlinge in Hamburg und erinnern daran, dass auch der prominente Sozialdemokrat Brauer in der Nazizeit „Refugee“ (Flüchtling) gewesen war.

Der Oberbürgermeister von Altona konnte sich 1933 gerade noch rechtzeitig absetzen, als Polizei in seine Wohnung eindrang. Seine Odyssee führte ihn über München, Wien und Paris nach Shanghai, wo er im Auftrag des Völkerbunds beim Aufbau einer Verwaltung helfen sollte, und nach New York, wo ihm jüdische und christliche Organisationen halfen, sich und seine Familie mit Vorträgen über Wasser zu halten. Erst 1946 kehrte er zurück und wurde im selben Jahr Hamburgs erster Nachkriegsbürgermeister.

Willy Brandt, Albert Einstein, Bertolt Brecht, Marion Dönhoff, Melina Mercouri, Alexander Solschenizyn, der Dalai Lama, der chinesische Schiftsteller Liao Yiwu – auch alles Flüchtlingsschicksale. Ihre Namen fallen allerdings nicht in unserer aufgeheizten Flüchtlingsdebatte. Wir tun so, als gäbe es zwei Klassen von Flüchtlingen: die bekannten, oft hoch verdienten, denen das Land selbstzufrieden gern Asyl gibt – weil es hier ja so freiheitlich zugeht; und die namenlose Masse derer, die aus Angst vor Terror, Armut und Krieg aus dem Nahen Osten, Afrika und anderen Krisenherden zu uns kommen und für die wir eine „Flüchtlingspolitik“ entwerfen, die eigentlich Flüchtlingsabwehr heißen müsste.

Der Vergleich mit Brauers Beispiel ist gar nicht schlecht, um zu sehen, dass mit zweierlei Maß gemessen wird. Auch Brauers Flucht verlief am Rande der Illegalität, seine Papiere wurden ungültig, ab 1934 war er staatenlos, er hatte anfangs Verständigungsprobleme und hielt sich deshalb an Emigrantenkreise. Bei einem jungen Mann aus Afghanistan oder einer Frau aus Eritrea hingegen werden heute dieselben Umstände negativ bewertet. Egal, was sie können und in ihrer Heimat geleistet haben: Sie bekommen zwar bei uns eine Notunterkunft, aber sich frei bewegen und arbeiten dürfen sie nicht. Die Chance, die Brauer hatte, haben sie nicht.

Das Argument „Flüchtlingsschwemme“ zieht nicht. Die heutigen Zahlen stehen in keinem Verhältnis zu dem Chaos Ende der 1940er Jahre. Damals waren 67 von 1000 Menschen weltweit vertrieben oder auf der Flucht, insgesamt 175 Millionen, zeigt der britische Forscher Peter Gatrell in einer Studie: allein 90 Millionen in Folge des chinesischen Bürgerkriegs, 20 Millionen infolge der Teilung von Indien und Pakistan, 60 Millionen in Europa infolge des Zweiten Weltkriegs, unter ihnen 12 Millionen Deutsche aus Ostpreußen und dem Sudetenland. Heute kommen auf 1000 Erdbewohner zehn Mal weniger, nämlich „nur“ sechs Flüchtlinge, was schlimm genug ist. Aber Behörden und EU tun so, als stülpe sich gerade eine Kontinentalplatte über uns. Was sich geändert hat, ist unser Denken über Flüchtlinge. In den 1920er-Jahren nahm man in Berlin, Paris und London gerne Exilrussen auf, die vor der Revolution flohen. In den 1940er Jahren unterstützte die noch junge Uno-Flüchtlingsorganisation vorrangig europäische Kriegsflüchtlinge, Millionen andere in Südostasien wurden vernachlässigt. Im Kalten Krieg billigte man Flüchtlingen aus dem „Ostblock“ noch ökonomisches Potenzial, Integrationswillen und kulturelle Impulse für Kunst, Film, Theater zu (Bolschoi-Ballett!).

Aber die heutige Verengung des Begriffs auf Kriegsflüchtlinge und politisch Verfolgte ist fatal. Sie macht alle anderen zu „Wirtschafts-“, „Armuts-“ oder neuerdings auch „Klimaflüchtlingen“, als wären das mindere Fluchtgründe. Flüchtling steht heute für Miserabilität (= Kosten für die Sozialkassen), Unterqualifikation, potenzielle Gefährlichkeit. Damit spielt das Innenministerium. Asyl? Lieber woanders.

Es wird Zeit, über Flucht und Flüchtlinge ehrlich nachzudenken.. Eine kurze Betroffenheitsaufwallung, wenn wieder 700 Menschen im Mittelmeer ertrunken sind, reicht nicht.