KABAKON . Ortstermin auf der Insel Kabakon in Neuguinea, dem Schauplatz von Christian Krachts Roman „Imperium“, den nun das Thalia auf die Bühne bringt.

Ungefähr anderthalb Stunden braucht das Motorboot von Kokopo auf Neubritannien bis zur Insel Kabakon. Wir sind schon vor acht Uhr aufgebrochen, denn gegen Mittag wird das Meer meist rau und die Bootstour kann dann ungemütlich werden. ­Anton, unser einheimischer Skipper, gibt kräftig Gas, bald taucht links die Kleine Taubeninsel auf, rechts daneben die Große Taubeninsel mit weißem Sandstrand und sattgrünen Kokospalmen, deren Stämme vom Wind in merkwürdige Formen gebogen wurden. Das Meer changiert von Stahlblau bis Türkis, hier heißt es noch immer Bismarck Sea, überhaupt erinnert noch viel an die Zeit, als dieser Teil von Neuguinea deutsche Kolonie war.

Dass sich die Mitglieder der Studienreisegruppe des Hamburger Völkerkundemuseums an diesem Julivormittag des Jahres 2014 ausgerechnet nach Kabakon fahren lassen, wundert Anton nicht, obwohl das kaum einen Quadratkilometer große Eiland heute unbewohnt ist. Außer Strand, Palmen und ein paar kleinen Plantagen, die von den Bewohnern einiger Nachbarinseln bewirtschaftet werden, hat die Insel eigentlich nichts zu bieten.

Seit 2012 muss Anton immer mal wieder Deutsche auf Engelhardts Insel bringen

Oder doch? Denn Kabakon ist ein Mythos. Vor allem seit 2012 muss Anton immer mal wieder Touristen auf die einsame Insel fahren. Meistens erzählen sie ihm dann von dem verrückten Deutschen, der die winzige Insel berühmt gemacht hat. Den Namen August Engelhardt kann sich unser Skipper zwar nicht merken, aber dass es um den Typen geht, der vor mehr als 100 Jahren mit einigen Gleichgesinnten aus Deutschland auf Kabakon gelebt und sich ausschließlich von Kokosnüssen ernährt hat, das weiß er längst.

„Kabakon – Thalia Theater: 13.553 Kilometer“, steht auf dem Programmheft, in dem die Premiere der Bühnenfassung von Christian Krachts Roman „Imperium“ für den 26. April angekündigt wird. Seit Krachts Roman über den ersten deutschen Hippie vor drei Jahren erschienen ist, lassen sich die wenigen Deutschen, die den Südsee-Staat Papua-Neuguinea besuchen, gern nach Kabakon fahren, um den wichtigsten Schauplatz des Romans zu betreten. „Imperium“ ist zwar keine Engelhardt-Biografie, sondern ein in wesentlichen Teilen fiktionaler Roman, doch basiert er auf der realen Geschichte des berühmtesten deutschen Aussteigers des frühen 20. Jahrhunderts.

Als sich unser Boot Kabakon nähert, haben wir historische Fotos vor Augen: Eine hagere Gestalt mit Bart und langem Haar, spärlich mit einem Lendenschurz bekleidet, unter Palmen. Eine einsame Hütte, in der ein gut gefülltes Bücherregal zu sehen ist. Als wir schließlich das Boot verlassen und den Strand betreten, entdecken wir bald eine ganz ähnliche Hütte mit Blätterdach, die seit Längerem verlassen zu sein scheint. Vor 100 Jahren dürfte es hier kaum anders ausgesehen haben.

Der 1875 in Nürnberg geborene Apothekenhelfer August Engelhardt begeisterte sich schon früh für Vegetarismus und Nudismus. Im Eckertal bei Goslar hatte er sich einer Nudisten-Kommune angeschlossen, deren Begründer aufgrund ihrer unkonventionellen Lebensführung allerdings mit dem Gesetz in Konflikt gekommen waren. In Deutschland, das wurde dem damals 26-Jährigen bald klar, würde er sein Ideal von Nacktheit und Vegetarismus nicht verwirklichen können. Deshalb entschloss er sich, in das damalige Deutsch-Neuguinea auszuwandern, wo er im Oktober 1902 eine Kokosplantage auf Kabakon erwarb.

Hier wollte er seinen „Sonnenorden“ gründen, eine pseudoreligiöse Kommune, deren Grundsätze aus zweierlei bestanden: Einerseits wollte er völlig auf Kleidung verzichten, was im tropischen Südseeklima kein Problem sein sollte. Und andererseits würde man sich ausschließlich von Kokosnüssen ernähren. Kokovorismus hieß die entsprechende Weltanschauung, die Engelhardt in verquasten Traktaten ausführte und in Deutschland verbreiten ließ. Offenbar hatte er damit den Nerv mancher zivilisationsgestresster Zeitgenossen getroffen, denn seine Kommune, die er „Sonnenorden – Äquatoriale Siedlungsgemeinschaft“ nannte, bekam ab 1903 Zulauf.

Allerdings dürften kaum mehr als zehn Personen gleichzeitig auf Kabakon gelebt haben. Das berühmteste Mitglied des „Sonnenordens“ war der Dirigent, Geiger und Pianist Max Lützow. „Ich bin geradezu entzückt von Kabakon und hätte nicht gedacht, dass es überhaupt einen Platz auf der Erde gäbe, der alle Anforderungen meines Ideals so genau befriedigt“, schrieb der Musiker in einem Brief, der 1904 in der „Vegetarischen Warte“ publiziert wurde. Schon ein Jahr später starb Lützow, der dem Klima und dem entbehrungsreichen Leben nicht gewachsen war.

Innerhalb der Kolonie kam es schon bald zu heftigen Konflikten

Und natürlich gab es innerhalb der Kolonie zahlreiche Konflikte. Auch Engelhardt selbst erkrankte mehrfach. „Nackter Kokovorismus ist Gottes Wille. Die reine Kokosdiät macht unsterblich und vereinigt mit Gott“, hatte der erste deutsche Hippie geschrieben, der sogar das Ende Kolonialzeit noch knapp überlebte. Er starb erst im Mai 1919 auf seiner Insel. Auch wenn es mit der Unsterblichkeit nicht klappte, ist zumindest Engelhardts Nachruhm beträchtlich. Bereits ein Jahr vor Krachts Roman hatte der Autor Marc Buhl 2011 eine gründlich recherchierte Biografie unter dem Titel „Das Paradies des August Engelhardt“ veröffentlicht. Und 2006 machte das Bremer Überseemuseum sein Schicksal zum Thema in der Ausstellung „Wege ins Paradies“.

Geduldig hat Anton gewartet, bis der letzte der sechs Hamburger Reisenden seine Erkundungen auf Kabakon beendet hat und wieder zurück an Bord ist. Es wird Zeit, dass wir die Rückfahrt nach Kokopo antreten, die Hauptstadt der Provinz East New Britain, die einst Herbertshöhe hieß. Benannt war sie nach Herbert von Bismarck, dem Sohn des Kanzlers. Der Berg, den wir hinter Kokopo bald gut erkennen können, heißt noch heute Mount Varzin, nach Bismarcks Pommerschen Landgut.

Die Wellen sind jetzt viel höher und schlagen hart gegen den Bug des Motorboots. „Und er hat wirklich nur Kokosnüsse gegessen?“, fragt Anton, als wir den Strand von Kokopo erreicht haben. Über so viel Unvernunft schüttelt er den Kopf, vielleicht aber auch über unser merkwürdiges Interesse an dem verrückten Aussteiger, der vor 100 Jahren hier seinen Traum vom Paradies zu leben versuchte.