London untersucht einen angeblichen „Kinderschänder-Ring“ aus den 80er-Jahren in Parlament und Regierung. Mehr als zehn Politiker stehen unter Verdacht – einige von ihnen sind noch immer im Amt.

Ein Gespenst geht um in Großbritannien. Bisher hatte man geglaubt, die Vorfälle von Kindesmissbrauch und anderer sexueller Vergehen beträfen vor allem die Welt des Entertainments.

Jimmy Savile zum Beispiel, Star bei der BBC in den 70er- und 80er-Jahren, der posthum als Serien-Sexualtäter entlarvt wurde. Oder Rolf Harris, 84, der beliebte TV-Unterhalter, der in der vorigen Woche wegen sexuellen Missbrauchs minderjähriger Mädchen eine mehr als fünfjährige Haftstrafe antreten musste. Scotland Yard hat ein eigenes Dezernat eingerichtet, „Operation Yew Tree“, das in diesen Vorfällen ermittelt; die Untersuchungen dauern an.

Doch jetzt weisen Berichte auf pädophile Praktiken auch unter Abgeordneten beider Häuser des Parlaments hin, auf Vorfälle, die nie geklärt oder strafrechtlich verfolgt wurden. Das könnte sich ändern, nun, da die allgemeine Empfindsamkeit allergisch reagiert auf die leisesten Verdachtsmomente und rückhaltlose Aufklärung verlangt.

Peter McKelvie, ein pensionierter Polizeibeamter mit besonderer Verantwortung für Kinderschutz, war bereits vor zwei Jahren mit einer Liste belasteter Namen amtierender und früherer Politiker zu den Ermittlungsbehörden gegangen, was im Oktober 2012 durch eine Unterhausanfrage des Labour-Abgeordneten Tom Watson bekannt wurde.

Die Informationen McKelvies zwangen die Londoner Polizei zur Einrichtung eines Dezernats, „Operation Fernbridge“. Auch wenn die Ermittler jede Auskunft zu laufenden Vorgängen ablehnen, ist dennoch einiges ans Tageslicht gedrungen.

Kinderschänder im Gästehaus von Südlondon

So soll in einem Gästehaus in Londons südlichem Stadtteil Barnes ein regelrechter Kinderschänderring operiert haben, in den offenbar Abgeordnete wie Sir Cyril Smith von der liberalen Partei oder der Konservative Sir Peter Morrison, beide inzwischen verstorben, verwickelt waren.

McKelvie sagte dem „Daily Telegraph“, er habe einige der Opfer und ihre Betreuer selbst interviewt. Seiner Meinung zufolge liege genügend Material vor, um bis zu 20 Parlamentarier für Vergehen aus den vergangenen drei Jahrzehnten zur Rechenschaft zu ziehen. Ein Ring des Schweigens, an dem Freunde der Beschuldigten mitgewirkt hätten, habe sie bisher gedeckt. Das seien noch einmal 20 Personen.

Gegen Sir Cyril ermittelt derzeit posthum die Polizei in Manchester aufgrund von mutmaßlichen sexuellen Übergriffen des Abgeordneten in einem 1994 geschlossenen Kinderheim im nordenglischen Rochdale.

Einem Pädophilen-Netzwerk unter Politikern war auch der 1995 verstorbene Tory-Abgeordnete Geoffrey Dickens auf der Spur, wie sein Sohn Barry in der BBC berichtete – eine entsprechende Namensliste habe nach Angaben seines Vaters „explosive Details“ enthalten.

Doch verlor sich die Spur dieser Informationen im Jahr 1983, als Dickens sein 40-Seiten-Dossier dem damaligen Innenminister der Thatcher-Regierung, Leon Brittan, überreichte. Der hat es nach eigenen Worten „an Beamte des Ministeriums“ weitergeleitet und den Generalstaatsanwalt bezüglich einiger der Informationen alarmiert.

Die Spur des belastenden Dossiers verliert sich

Eine Untersuchung des Innenministeriums der heutigen Koalitionsregierung im vergangenen Jahr konnte den Verbleib des Dossiers jedoch nicht mehr feststellen. Es fand sich lediglich ein Brief des inzwischen geadelten Lord Brittan an Geoffrey Dickens aus dem März 1984, dass man aufgrund seiner Informationen „gehandelt“ habe.

Wie, konnten die Experten des Innenministeriums 2013 nicht mehr genau feststellen. Sie fanden lediglich, dass „glaubwürdige Elemente“ des Dossiers, mit einem „realistischen Potenzial“ für weitere Ermittlungen, an die Staatsanwaltschaft und die Polizei gegangen seien, während andere Informationen „entweder einfach nicht aufgehoben oder vernichtet wurden“.

Das kommt Barry Dickens heute höchst verdächtig vor. „Mein Vater hielt sein Dossier damals für das schwerwiegendste Dokument, das jemals zum Thema sexueller Missbrauch im politischen Milieu zusammengestellt worden war, mit Details zu Personen und der Macht, die diese jeweils ausübten.“ Auch wurde damals in die Londoner Wohnung von Geoffery Dickens und sein Wahlkreisbüro im Norden Englands eingebrochen, wie der Sohn jetzt berichtete, „mit gezielten Durchsuchungen nach Papieren im Besitz meines Vaters“.

David Cameron will Aufklärung, aber nicht öffentlich

Premierminister David Cameron hat jetzt den beamteten Staatsekretär im Innenministerium, Mark Sedwill, damit beauftragt, die mysteriöse Spur des Dossiers zu verfolgen. Eine öffentliche Anhörung, wie sie 137 Abgeordnete in einem Brief gefordert haben, lehnte Cameron hingegen ab: „Wir dürfen nichts unternehmen, was die laufenden Ermittlungen der Polizei präjudizieren könnte.“

Wer über Informationen zu kriminellen Vorgängen verfüge, solle diese den Polizeibehörden melden. Sedwill hat inzwischen an die Downing Street berichtet, es fehlten insgesamt 114 Dokumente über sexuelle Vergehen in Westminister, die dem Innenministerium zwischen 1989 und 1999 zugegangen seien.

Derweil konzentriert sich jüngsten Presseberichten zufolge die Aufmerksamkeit auf Lord Brittan, der in den 90er-Jahren EU-Kommissar war und es zeitweilig bis zum stellvertretenden Vorsitzenden der Kommission unter Jacques Santer gebracht hatte.

Der „Independent on Sunday“ berichtete nun, der 74-Jährige sei vor einem Monat von der Polizei wegen einer angeblichen Vergewaltigung im Jahr 1967 verhört worden, was Brittan vehement bestreitet. Der Vorwurf kam der Polizei 2012 zu Ohren, von einer Frau, die zur Zeit des mutmaßlichen Vorfalls „über 18“ war, wie sie angab.