Die Müllers nehmen seit 22 Jahren Pflegekinder auf. Jemanden aufgegeben haben sie nie

Niklas * weiß, dass Cornelia Müller nicht seine leibliche Mutter ist. Er sagt trotzdem Mama zu der 50-Jährigen. Der Fünfjährige hat noch eine andere Mutter, eine „Bauchmama“. Aber bei Cornelia und Detlef Müller ist Niklas zu Hause, hier hat er sein Kinderzimmer mit Piratenschiff-Bett. Mit acht Wochen war er zu den Müllers nach Langenhorn gekommen, weil sich seine drogensüchtigen Eltern nicht um ihren Sohn und seine Geschwister kümmern können. Niklas ist ihr Pflegekind: eines von rund 1300 Hamburger Kindern, die derzeit in Pflegefamilien wie den Müllers leben. Der Bedarf ist groß – jedes Jahr werden für Hunderte Kinder Pflegeeltern gesucht, weil sie zeitweise oder auf Dauer nicht in ihren Familien aufwachsen können.

Vor 22 Jahren hat das Ehepaar zum ersten Mal ein Pflegekind zu sich genommen. Damals lebten sie mit ihren Töchtern Jessica, heute 25, und Melanie, 26, noch in einer Drei-Zimmer-Wohnung in Barmbek. Platz für ein Pflegekind hatten sie dennoch. „Warum wir damit angefangen haben, weiß ich gar nicht mehr“, sagt Cornelia Müller. Damals waren sie und ihr Mann Detlef Pioniere und eine der ersten Familien, die fremde Kinder zu sich nahmen. Manche kommen als Vollzeitpflegekinder, so wie Niklas, der bis zu seinem 18. Lebensjahr bei den Müllers leben wird, sofern seine Mutter keine Ansprüche geltend macht.

Er ist das zweite Vollzeitpflegekind neben Valerie, die als Siebenjährige kam, weil sie in ihrer eigenen Familie misshandelt und missbraucht worden war. Sie ist inzwischen 22 Jahre alt und ausgezogen. Der Kontakt zu den Müllers ist aber nach wie vor da. Im Treppenaufgang des 110 Quadratmeter großen Reihenhauses hängen Familienporträts – links Valerie, daneben Melanie und Jessica. Für Melanie waren die vielen Kinder im Haus normal: „Ich kannte das nicht anders. Es war ein Leben wie in einer Großfamilie“, sagt sie. Vielleicht kommt daher ihr Hang zu Kindern: Melanie ist Erzieherin geworden. Ihre Mutter hat nie in ihrem erlernten Beruf als Friseurin gearbeitet, stattdessen waren immer kleine Mädchen und Jungen zu versorgen. 75 Pflegekinder bislang. Die meisten kommen als Bereitschaftspflegekinder.

So wie der zweieinhalbjährige Ruben, der gerade auf den Schoß seiner Pflegemutter gekrabbelt ist. Zum Kuscheln. Seine leibliche Mutter war mit Ruben und seiner Zwillingsschwester überfordert, deswegen hält er sich lieber an Detlef Müller. „Seine Mutter hat versagt und ihm fehlt die richtige Vaterrolle. Vor mir hat er Respekt“, sagt er. Detlef Müller ist ein Hüne, ein ganz freundlicher, der dafür sorgt, dass Regeln eingehalten werden.

Die Kinder werden vom Jugendamt aus einer Notsituation herausgenommen, manche von ihnen sind schwer traumatisiert. Sie bleiben zum Teil nur für wenige Wochen, zum Teil bis zu einem Jahr – die Müllers schenken ihnen Aufmerksamkeit, Geborgenheit und Liebe. „Solche Kinder brauchen von Anfang an Harmonie, sie brauchen Mama und Papa“, sagt Detlef Müller. Der 51-Jährige arbeitet im Schichtdienst bei der Lufthansa-Technik und verbringt viel Zeit mit den Kindern.

Vermittelt werden die Kinder durch den Träger Pfiff. Der Bedarf ist größer als das Angebot: Im vergangenen Jahr erreichten Pfiff 139 Anfragen, nur 42 Kinder konnten aber in Bereitschaftsfamilien unterkommen. Die Kinder seien in den vergangenen 22 Jahren schwieriger geworden, sagt Cornelia Müller. Drogen- und Alkoholmissbrauch der Eltern, Vernachlässigungen kommen häufiger vor. Manche werfen Pflegeeltern vor, das aus finanziellen Gründen zu machen. Je nach Alter des Kindes erhält eine Bereitschaftspflegefamilie zwischen 1261 und 1425 Euro pro Monat. Aber: Die Betreuung dieser Kinder ist Arbeit. „Es gibt immer Kinder, die sich in der ersten Zeit einkoten, da musste ich auch schon in die Schule kommen, weil Lehrer damit überfordert waren“, sagt Cornelia Müller. Doch auch schwierige Fälle bleiben bei ihnen. Aufgeben und die Kinder für eine Übergangszeit in eine andere Pflegefamilie geben, das kommt nicht infrage. Die Kinder bleiben solange, bis sie in eine dauerhafte Lebensgemeinschaft vermittelt werden.

*alle Pflegekindernamen geändert