Erdtrud Mühlens aus Hamburg hat dasNetzwerk Nachbarschaft gegründet. 160.000 Menschen aus Deutschland und Österreich machen mit. Auch Initiativen aus Lurup und Eimsbüttel sind dabei

Nachbarn. Das Wort klingt erst mal gar nicht gut. Sondern nach: lauter Musik. Klopfen an der Zimmerdecke. Zeitung aus dem Postkasten geklaut. Müll im Treppenhaus. Kindergeschrei. Ärger am Jägerzaun. Ausspionieren. Lästerei. Treffen vor Gericht.

„Mich fasziniert, dass Nachbarschaft so etwas Direktes ist. Sobald ich vor meine Wohnungstür trete, bin ich in der Nachbarschaft“, sagt Erdtrud Mühlens. Sie findet das gut. Klar, sie weiß auch, dass der Begriff „Nachbar“ in Deutschland irgendwie nicht so gut klingt. Aber dagegen kann man etwas tun. Erdtrud Mühlens, 61 Jahre alt, möchte für gute Nachbarschaft sorgen. Nicht nur in Deutschland, sondern mittlerweile auch in Österreich. Mühlens hat vor neun Jahren das „Netzwerk Nachbarschaft“ gegründet. Ein Netzwerk, das Nachbarn dabei hilft, etwas gemeinsam zu machen.

Engagiert war Erdtrud Mühlens immer schon. Sie wuchs als zweitjüngstes von sieben Kindern in Bonn auf. „Da muss man sich selbst gut aufstellen“, sagt sie. Von der Schule in Bonn flog sie – weil sie die Autorität der Lehrer infrage stellte. Mühlens fühlte sich nicht nur wohl in der 68er-Bewegung, sie war ein aktiver Teil von ihr. Mit 16 zog sie nach Heidelberg, machte eine Fremdsprachenausbildung in Englisch und Französisch, das Abitur holte sie auf der Abendschule nach. Sie machte eine Ausbildung als Herstellerin für Bücher. Aber eigentlich war sie hauptberuflich Kommunistin. Sie kämpfte für mehr Lohn, bessere Arbeitsbedingungen, protestierte gegen verkrustete Strukturen in Unternehmen. Über ihr politisches Engagement kam sie in den Journalismus. Das Dogmatische hat sie irgendwann abgelegt.

Ab Ende der 80er-Jahre arbeitete Mühlens für Frauenzeitschriften in Hamburg. Doch irgendwann wollte sie etwas Eigenes machen. 1993 gründete sie eine Agentur für strategische Kommunikation. Sie macht Werbung – nicht für Produkte, sondern für gute Ideen, wie sie sagt. Ein Beispiel ist die Kampagne „Langeweile streng verboten“ für das Deutsche Jugendherbergswerk.

Im Jahr 2004 erfand Mühlens zusammen mit einem Wohn-Magazin die Aktion „Gute Nachbarschaft“. An dem Wettbewerb konnten Nachbarschaften teilnehmen, die etwas Besonderes zusammen machten. Dass aus dem Projekt nur wenig später „ihr“ Projekt werden sollte, konnte Mühlens noch nicht wissen. Ihr Leben sollte sich im Dezember 2004 ändern.

Seit vielen Jahren macht Erdtrud Mühlens Urlaub in Sri Lanka. Auch im Dezember 2004. Der Tsunami riss das Hotel weg, in dem sie wohnte. Im letzten Moment konnte Mühlens flüchten. Sie rannte los. Mühlens sah gut betuchte Touristen, die nur an sich selbst dachten und sich davonmachten. Eine Frau drückte ihr ein Kind in den Arm, sie brachte es in Sicherheit. Mühlens sah Hotelangestellte, Menschen, die ihr Leben riskierten, um das Leben der Gäste zu retten. Sie fragten nicht nach der Herkunft, sondern halfen einfach.

Erdtrud Mühlens kehrte traumatisiert nach Hamburg zurück. Aber sie erlebte auch Momente großen Glücks. „Ich lebe“ – diese Erkenntnis war nicht mehr selbstverständlich. Und: Sie hatte Nachbarschaftshilfe in einer Extremsituation erlebt. Als sie zurück in ihr Büro kam, fand sie ihren Schreibtisch so vor, wie sie ihn hinterlassen hatte. Und doch erschien ihr alles anders. Das alte Leben – das war der Papierstapel auf ihrem Schreibtisch. Sie wollte dieses alte Leben nicht aufgeben. „Aber ich wollte es in eine Richtung lenken, die mir mehr entspricht“, sagt sie.

Sie dachte gleich an das Nachbarschaftsprojekt. Es sollte keine einmalige Sache sein, abhängig von Kunden. Sondern ihr Projekt. Dazu steckte sie eigenes Geld in das „Netzwerk Nachbarschaft“, bis heute über 300.000 Euro. Das Geld sollte eigentlich ihre Altersvorsorge sein. Die Investition war riskant. Aber was war dieses finanzielle Risiko schon für jemanden, der den Tsunami überlebt hat?

Jeder Mensch ist ein Nachbar. Doch es braucht Anreize, damit Nachbarn etwas miteinander machen. Deshalb lobt Mühlens jedes Jahr mindestens einen Wettbewerb aus. In den vergangenen Jahren ging es mal um das tollste Nachbarschaftsfest, um die schönste Fassade, die besten Projekte im Stadtviertel. In diesem Jahr ist es der Wettbewerb „Die schönste Straße Deutschlands“, den das Netzwerk mit einem Sponsor ausgeschrieben hat. Die zehn Gewinner bekommen je 5000 Euro. „Wenn Nachbarn so ein Projekt zusammen machen, hören sie danach nicht mehr auf“, sagt Mühlens. Ihre Agentur übernimmt bei den Wettbewerben die Pressearbeit für die Sponsoren und bekommt dafür Geld. Die übrige Arbeit für das Netzwerk macht sie ehrenamtlich.

Auf der Internetseite netzwerk-nachbarschaft.net stellt die Initiative gelungene Nachbarschafts-Projekte vor. „Das Netzwerk ist nichts für Notleidende“, sagt Mühlens. „Es geht um gesunden sozialen Egoismus. Durch aktive Nachbarschaft macht man etwas für sich selbst, man bekommt soziales Kapital zurück.“

Die Mitgliedschaft im Netzwerk Nachbarschaft ist kostenlos. Mühlens versorgt die Mitglieder mit Newslettern. Darin stellt sie neue Projekte vor. Es gibt Checklisten – zum Beispiel zum Thema Konflikte in der Nachbarschaft. 1500 Nachbarschaften sind Mitglied im Netzwerk – und damit 160.000 Nachbarn. Seit dem vergangenen Jahr gibt es das Netzwerk auch in Österreich.

Die Lenzsiedlung in Eimsbüttel. Monika Blaß und ihr Team vom Verein Lenzsiedlung haben zum Grillfest geladen. 3000 Menschen aus 60 Nationen wohnen in der Hochhaussiedlung. Viele sind gekommen. Es gibt Grillwürste, die Bewohner haben Salate nach Rezepten aus ihrer Heimat mitgebracht. Viele Kinder sind da. Und Kinder waren es auch, wegen denen der Verein vor 35Jahren von Bewohnern gegründet wurde. Der Verein wird von der Stadt und von der Saga unterstützt – und ist Mitglied im Netzwerk Nachbarschaft.

„Gemeinschaftliche Aktivitäten von Nachbarn starten nicht von allein“, sagt Monika Blaß, „es braucht jemanden, der Starthilfe gibt.“ Der Kinderclub bietet Ausflüge und Bastel-Workshops in den Ferien an, das Jugendhaus Paddeln auf der Alster und einen Graffiti-Workshop. Für die Älteren gibt es den „Lenz-Treff“: Hier kann jeder hinkommen, der ein Problem hat. Auf Initiative des Vereins haben die Bewohner ihre Siedlung mitgestaltet. Die Spielplätze auf den Innenhöfen zum Beispiel, oder das große Wandgemälde an einem der Hochhäuser. Das Netzwerk Nachbarschaft hat den Verein schon einmal ausgezeichnet für multikulturelle Nachbarschaft.

Die Nachbarschaft aus dem Brachvogelweg in Lurup ist seit sechs Jahren beim Netzwerk dabei. In den vergangenen Wochen haben sich die Nachbarn getroffen, um Skulpturen aus Ytongsteinen zu formen, denn: Der Brachvogelweg will die schönste Straße Deutschlands werden.

Die Bewohner treffen sich einmal im Monat. Es geht etwa darum, wer hier als Mieter einziehen darf. 75 Erwachsene und 45 Kinder leben in den Wohnblocks. Im Frühjahr fahren die Nachbarn für ein Wochenende in den Urlaub auf einen Bauernhof im Wendland. Es gibt ein Sommerfest. Und ein Apfelfest im Herbst.

Für Erdtrud Mühlens ist das Netzwerk Nachbarschaft mehr als ein Hobby. Mehr als die Hälfte ihrer Arbeitszeit wendet sie dafür auf. Und dann ist sie ja auch noch selbst Nachbarin: Mühlens, die alleine lebt, wohnt in Eppendorf, im Woldsenweg. Einmal im Monat trifft sie sich mit ihren Nachbarn in einem Restaurant. Sie organisiert Kaffeekränzchen für die älteren Bewohner. Einmal im Jahr findet ein Neujahrsempfang statt – jeder Nachbar ist mal Gastgeber.