Hamburg. Ein Hamburger Verein hilft jung verwitweten Menschen über ein Internetportal, mit der Trauer umzugehen. Es gibt auch analoge Treffen.

Noch heute hat Ulla Engelhardt einen alten Zettel in ihrem Terminkalender. Darauf hatte sie vor mehr als 20 Jahren drei Buchstaben gekritzelt, als ihr Mann sie nach einem Arztbesuch anrief und die Diagnose mitteilte. A-L-S. Diese drei Buchstaben stehen für Amyotrophe Lateralsklerose. Es ist eine chronische, fortschreitende, unheilbare Krankheit des zentralen Nervensystems.

Jung verwitwet: Die 37-Jährige fühlte sich im Internet-Chat nicht mehr allein

Drei Jahre danach starb ihr Mann. Mit 62. Und Ulla Engelhardt wurde Witwe. Mit 37. Mehr als ein Jahr brauchte die Mutter der damals sechs Jahre alten Tochter, um nach diesem Verlust wieder festeren Boden unter den Füßen zu spüren. Was ihr damals half, war ein neues, nicht kommerzielles, offenes Internetportal – www.verwitwet.de. Im Forum traf sie auf Männer und Frauen, die ihre Lebenssituation teilten und ebenfalls jung verwitwet waren. „Ich habe die Nächte durchgechattet. Der gemeinsame Austausch hat mir sehr geholfen“, erinnert sich die Hamburgerin. Sie fühlte sich nicht mehr allein, sondern in dieser Community als „Teil einer Mehrheit“, wie sie sagt. „Ich war nicht mehr der Alien.“

Partner gestorben: Ein Hamburger Verein hat bundesweit 360 Mitglieder

Was 1999 mit diesem Internetportal begann, ist inzwischen eine große Gemeinschaft geworden, die digital und analog miteinander kommuniziert und mit Rat und Tat zur Seite steht. Menschen, die ihren Partner oder Partnerin in jungen Jahren verloren haben, fühlen sich nicht mehr allein gelassen, sondern sind Teil einer Selbsthilfe-Initiative. Längst gibt es neben der Website www.verwitwet.de mit mehr als 13.500 angemeldeten Usern auch einen Verein. Er heißt „jung verwitwet e.V.“ und hat seinen Sitz in Hamburg mit bundesweit rund 360 Mitgliedern. Ulla Engelhardt gehört dem Verein als Beirätin an und steht Betroffenen als zertifizierte Trauerbegleiterin (Institut für Trauerarbeit) zur Seite.

Wenn der Partner früh stirbt: 600.000 jung Verwitwete leben in Deutschland

Jung gefreit hat nie gereut. Im Jahr 2022 wurden in Deutschland rund 380.700 Ehen geschlossen.
Jung gefreit hat nie gereut. Im Jahr 2022 wurden in Deutschland rund 380.700 Ehen geschlossen. © imago images / Westend61 | IMAGO stock

Die Zahl der jungen Witwen und Witwer ist groß. In Deutschland leben nach Vereinsangaben rund 600.000 Verwitwete im Alter von 20 bis 59 Jahren. Jährlich sterben 35.000 verheiratete Deutsche in dieser Altersgruppe. Gemeinsame Lebenspläne werden auf einen Schlag zunichte gemacht. Träume zerplatzen, Kinder werden zu Halb- und Vollwaisen. Der Verein will diesen Menschen helfen, mit ihrer Trauer zu leben und neu anzufangen. „Verstehen werden wir den Tod vielleicht nie“, sagt Vereinsvorstand und -gründer Oliver Scheithe. „Aber wir können lernen, mit ihm zu leben. Im Verein und unserer Community sind wir füreinander da. Das ist ein unglaublicher Halt für jede und jeden von uns.“ Denn der Austausch und die Gemeinsamkeit in dieser schwierigen Lebenssituation helfe, den veränderten Alltag zu bewältigen.

Plötzliches Herzkammerflimmern: Die Ehefrau stirbt nach Kirmesbesuch an den Folgen

Oliver Scheithe aus Lüneburg hat es selbst erfahren, wie er nach dem Tod seiner Frau Kristin in ein tiefes Loch fiel. Ihre Kinder waren drei, sechs und zehn Jahre alt, als plötzliches Herzkammerflimmern seiner 31 Jahre alten Ehefrau beim Besuch einer Kirmes in Nordrhein-Westfalen ein jähes Ende setzte. Er war genauso alt wie seine große Liebe und nun plötzlich Witwer. „Jetzt trug ich den Stempel ‚verwitwet‘ auf der Stirn“, sagte der heute 56-Jährige.

Jung verwitwet: Vor 30 Jahren gab es nur sehr wenige Hilfsangebote

Ende der 1990er-Jahre standen die Betroffenen wie er allein auf weiter Flur. Zwar konnten sie sich von Psychotherapeuten helfen lassen – mit langen Wartezeiten. Aber Selbsthilfegruppen von Männern und Frauen existierten praktisch nicht. „Ich lebte damals in Köln, dort gab es eine Gruppe ausschließlich für Witwen“, erinnert sich der gelernte Bankkaufmann. Außerdem fehlte der Fokus auf jene Menschen, die jung zu Witwen und zum Witwer wurden. In der Gesellschaft wurde das Thema damals tabuisiert.

Letzte Ruhe auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg, dem größten Parkfriedhof der Welt
Letzte Ruhe auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg, dem größten Parkfriedhof der Welt © Michael Rauhe / Funke Foto Services | Michael Rauhe

www.verwitwet.de: Das passierte, als die Seite freigeschaltet wurde

Oliver Scheithe sehnte sich gerade nach dem Austausch mit jenen Menschen, denen es genauso erging wie ihm. Er wollte heraus aus der inneren Starre – hinein in die Aktivität. „Denn bei drei kleinen Kindern konnte ich nicht passiv sein“, sagt er.

Scheithe verstand etwas vom Programmieren, vom Einrichten einer Website. Er wollte das damals immer populärere Internet nutzen, um Kontakte zu knüpfen. Wenigstens in einem Chat. 1999 konnte er www.verwitwet.de im Netz freischalten, ein Jahr nach dem Tod seiner Frau. User fanden dort Literaturempfehlungen und Ratschläge im Umgang mit den Behörden, zum Beispiel mit Jugendämtern und für die Beantragung der Witwenrente.

Ein Nickname genügt für die Website der jung Verwitweten

Vor allem fanden die Nutzer in diesem neuen Internetangebot ein offenes Forum. Wer sich anmeldete, konnte anderen jungen Witwern und Witwen begegnen und mit ihnen chatten. Ein Nickname genügte.

„Nachdem ich das ins Netz gestellt hatte, meldeten sich schnell die ersten Verwitweten“, erinnert sich der Gründer und Webmaster der Plattform. „Das neue Angebot wurde gut angenommen, weil es so etwas noch nicht gab. Ich schloss für jung Verwitwete praktisch eine Marktlücke.“ Der Vorteil bei einem solchen Chat liegt auf der Hand. „Wenn man Kinder hat und sie abends im Bett sind, setze ich mich vor den Computer und kann mich, ohne das Haus zu verlassen, mit anderen austauschen. Ich kann mich relativ frei zu meinen Gefühlen äußern, ohne dass der andere weiß, wer ich wirklich bin, weil ja nur Nicknamen verwendet werden.“

Vereinsgründer Scheithe traf bei TV-Pfarrer Jürgen Fliege in der ARD auf

Schnell wurden die etablierten Medien auf die Website und damit auf das Schicksal jung Verwitweter aufmerksam. Die „Bild am Sonntag“ berichtete über ein Paar, das sich – bei gleichem Schicksal - über die Website kennen- und lieben lernte. Scheithe trat auch in einer Show von TV-Pfarrer Jürgen Fliege auf, und auch der WDR Hörfunk brachte einen Beitrag.

Die Schwester von Ulla Engelhardt hatte den Beitrag gehört und ihr empfohlen, Teil dieser Community zu werden. Sie nahm Kontakt zum Verein auf, trat ihm bei und fand Gleichgesinnte. Bei aller Trauer über den Verlust ihres Mannes entwickelte sich ihr Leben darum herum neu. „Die Trauer aber“, sagt sie über ihre Erfahrungen, „bleibt. Doch sie verändert sich, wen wir den Schmerz zulassen und den Trauerprozess durchleben.“ Um anderen Menschen professionell helfen zu können, ließ sie sich im Institut für Trauerarbeit (ITA) e.V. (www.ita-ev.de) zur Trauerbegleiterin ausbilden. Der Verein „jung verwitwet“ und das Institut arbeiten eng zusammen und bieten unter anderem Einzelgespräche, Trauergruppen, Seminare und Vorträge an.

Mehr zum Thema

Professionelle Trauerbegleitung für jung verwitwete Menschen in Deutschland

„Unser Ziel ist es, die Trauer nicht wegzukriegen, sondern zu begleiten“, sagt sie und zeigt ein Exemplar ihres 2012 erschienenen Buches „Jung verwitwet. Weiterleben, wenn der Partner früh stirbt“ (www.fischerverlage.de). Diese Publikation steht Menschen, die ihren Partner verlieren, unterstützend und wegweisend mit praktischer Hilfestellung zur Seite.

Das Leben von Oliver Scheithe und Ulla Engelhardt musste nach dem Tod ihrer Partner weitergehen. Es ging auch weiter. Beide haben neue Partner, aber das Thema „jung verwitwet“ ist weiter Teil ihres Lebens. „Alles entstand, weil meine Frau gestorben ist“, sagt Vereins- und Website-Gründer Oliver Scheithe. „Die Energie meiner Frau lebt bei verwitwet.de weiter.“