Über das Tier mit den langen Löffeln sind viele falsche Mythen in Umlauf. Dass es sich beim Sex im Freien nicht versteckt, ist aber wahr

Wir haben einen neuen Mitbewohner. Entdeckt hat ihn meine Frau Anke. „Pssst“, flüsterte sie eines Morgens, als ich die Treppe zu unserer Mühlen-Küche herunterkam. Dann hauchte sie noch „Hasi“. Ich war nicht gemeint. Sie deutete nach draußen auf den Rasen hinter unserer kleinen Mühle im Wendland, der mehr eine Wiese ist. Da gibt es für den Vegetarier genug zu fressen. Gräser und Wildkräuter. Ich dachte nur: „Hoffentlich mag er auch Löwenzahn.“

Gute zehn Minuten beobachteten wir das Tier, das ich inzwischen eindeutig als Feldhasen identifiziert hatte. Ganz klar kein Kaninchen, dafür waren die Ohren viel zu lang. Löffel heißen die in der Jägersprache – und die richtete das Tier etwa alle 20 bis 30 Sekunden auf. Gefahr im Verzug? Hasen sind kurzsichtig, nehmen aber Bewegungen wahr und haben ein Super-Gehör. Sie sehen praktisch mit den Ohren. Ihre schlimmsten Feinde sind Greifvögel, Fuchs und Mensch. Die industrialisierte Landwirtschaft nimmt den Tieren den Lebensraum, viele werden von Autos überfahren. Ein vier bis fünf Kilo schwerer Hase kommt als Sprinter auf etwa 70 km/h und schlägt Haken, um seine Feinde ins Leere laufen zu lassen. Dummerweise fährt das Auto immer weiter geradeaus und hat den Hasen beim zweiten oder dritten Haken erwischt.

Hasen können bis zu zwölf Jahre alt werden und gelten als standorttreu. Die Jäger aus dem Dorf haben geschworen, ihn nicht zu erschießen. Und wir machen einen Bogen um die Sassen, in denen sie sich tagsüber verstecken. Vier haben wir schon entdeckt. Vielleicht haben wir ja bald eine kleine Hasenfamilie.

Es gehört zu den falschen Mythen um Lepus europaeus, den viele Großstadtkinder heute nur noch als Osterhasen aus Schokolade kennen, dass Möhren ihre Lieblingsspeise sind. Das trifft höchstens auf Stallhasen zu, von denen in meiner Kindheit unser Nachbar etliche heranzüchtete. Mit den schönsten und erfolgreichsten Rammlern erzielte er auf Ausstellungen etliche Preise. Als Kind bekam ich Möhren satt. Bis sie mir quasi aus den Ohren kamen. Meine Mutter hat es nur gut gemeint. Schwerhörigkeit war in unserer Familie verbreitet. Mein Großvater war damit geschlagen, mein Vater auch. Ich trage seit gut zehn Jahren ein Hörgerät. Man sieht also, die Möhren haben bei mir nicht geholfen.

Nach gut zehn Minuten also sprang der Hase auf, schlug ein paar Haken und war, zack, weg. Kurz darauf kam ein Nachbar vorbei, mit seinem Hund. Den hatte unser Häschen wohl von Weitem gehört. Lange vor uns.

Ich weiß jetzt auch nicht, welches Geschlecht Ankes „Hasi“ hat. Mann oder Frau, wer weiß das schon genau? Erst bei alten Hasen können Fachleute das genau erkennen. In der Jugend sind sogar die Geschlechtsteile nur schwer zu unterscheiden. Auf jeden Fall scheint die Art als solche heterosexuell zu sein. Von anderen Veranlagungen, etwa schwulen Rammlern oder lesbischen Hasis, habe ich in der Fachliteratur nichts gefunden. Aber vielleicht haben sich die Grünen oder die Gender-Bewegung noch nicht ausgiebig genug mit der sexuellen Orientierung des Feldhasen beschäftigt.

Es gibt also, logisch, auch noch keine entsprechenden Abkürzungen, die bei Grünen so beliebt sind wie sonst nur bei den Vereinten Nationen oder der EU. Hieß das mal LGBT, was im Englischen für Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender stand, ist daraus mittlerweile LSBTTIQ geworden, steht bei uns längst in rot-rot-grünen Koalitions-Vereinbarungen etwa in Berlin und meint lesbische, schwule, bisexuelle, transgender, transsexuelle, intersexuelle und queere Menschen. In Berlin kämpfen Grüne schon dafür, in amtlichen Schreiben ein Sternchen hinter die Abkürzung zu setzen. Das steht im Gender-Buchstaben-Baukasten für OW und heißt „oder was auch immer“.

Wissenschaftlich bewiesen ist auf jeden Fall, dass die Spezies Hase nicht monogam ist. Zwischen März und September kann die Häsin viermal jeweils bis zu zwölf Babys bekommen, die sie als Alleinerziehende versorgt. Der Rammler kümmert sich um nix. Im Gegenteil: Er stellt weiter Hasenfrauen nach. Vorher muss er seine Konkurrenten in einer Art Boxkampf bezwingen. Dabei stellen sich Hasenmänner auf die Hinterbeine und schlagen mit den Vorderpfoten auf­einander ein. Dann müssen sie laut neuester Forschung einen weiteren Boxkampf mit dem Objekt ihrer Begierde bestehen. Nur die Stärksten sollen die Art vermehren. Treue kennt auch die Hasenfrau nicht. Die Hasenkinder eines Wurfes können bis zu vier verschiedene Väter haben. Zum Geschlechtsakt ziehen sich Hasen nicht ins Unterholz zurück. Sie haben Sex im Freien. Wie Berliner Polizisten in Hamburg.

Bis zum nächsten Wochenende, herzlichst Ihr Karl Günther Barth