Diesmal geht es nicht um Pflanzen, sondern um den Syrer Ammar – und ein Beispiel, wie man bei uns auf dem Dorf mit einem Flüchtling umgeht

Mein Freund Timo ist ein Held. Er sieht das nicht so. Der 36-jährige Berufsfotograf ist ein Nachbar in dem Wendland-Dorf, in dem unsere Mühle steht. Weil er oft in Krisengebiete reist, nennen ihn manche einen Kriegsfotografen. Auch dies lässt er nicht gelten. Er fotografiere nicht Schlachten, sondern das Leben der Menschen im Krieg. Er wolle den Opfern und ihrem Leid ein Gesicht geben. Gut leben kann er davon nicht – auch wenn seine Fotos in renommierten Zeitungen, manchmal sogar im „Spiegel“ gedruckt werden. Das hat nichts mit der Qualität seiner Fotos zu tun, sondern mit Spardiktaten in der Medienkrise.

Das allein wäre noch kein Grund, über Timo zu schreiben, da in dieser Kolumne doch vorzugsweise über Pflanzen und über unseren Mühlenpark im Wendland berichtet wird. Aber auch über das Leben auf dem Land. Und die Geschichte von Timo ist auch eine Geschichte, wie man auf dem Land mit Flüchtlingen umgeht.

Timo bringt sich nie leichtfertig in Gefahr, um seine Bilder zu machen. Trotzdem gerät er schon mal in Lebensgefahr. Etwa im Februar 2012, als er in Nordsyrien knapp aus einem Dorf entkommen konnte, das einem Massaker von Milizionären des Diktators Assad zum Opfer fiel. Seine Bilder aus Kurin, so heißt der Ort, gingen damals um die Welt.

Geholfen haben ihm in solchen Situationen immer wieder Menschen, die zu Freunden geworden waren – und mit denen Timo über Internet und Handy stets Kontakt hatte. So wie mit Ammar, einem heute 33 Jahre alten Syrer, der in seiner von den Assad-Truppen befreiten Stadt einer der wichtigen Aktivisten beim Aufbau einer Zivilgesellschaft war – bis die Mörderbanden des „Islamischen Staates“ (IS) seinen Ort besetzten. Da musste der Mann, der Germanistik studiert hatte und fließend Deutsch spricht, selber fliehen. Menschen, die Demokratie organisieren, werden vom IS als Erste liquidiert.

„Kannst du mir dein Auto leihen?“, bat Timo einen Nachbarn. Er wollte seinen Freund Ammar ins Wendland holen, den er auf seiner Flucht bis nach München gelotst hatte. Sein alter VW-Bulli ist nicht nur klapprig, schlimmer war, dass das Nummernschild wohl in sämtlichen Polizei-Computern gespeichert ist. Timo fotografiert nicht nur bei Castor-Demos, sondern ist selber aktiv im Widerstand gegen das Atomlager Gorleben. Ammar musste sich auf der Flucht in Ungarn registrieren lassen und hätte nach den Regeln des Dublin-Abkommens in das Land des berüchtigten Budapesters Premiers Orbán abgeschoben werden müssen. Er war also praktisch ein Illegaler.

Weil das Auto des Nachbarn Peter, aktiv im bäuerlichen Widerstand gegen Gorleben, auch in den Polizei-Computern war, stellte dessen Frau Andrea ihren neuen Wagen zur Verfügung. Weil die beiden wussten, dass Timo es nicht so dicke hat, füllten sie den Tank randvoll. Es reiche, sagten sie, wenn er mit dem letzten Tropfen heimkehre.

Freund Ammar bekam Kirchenasyl in Hitzacker, das erste seiner Art im Wendland – und nach wenigen Monaten ein vorläufiges Bleiberecht. Man ist hier an Zuwanderer aus anderen Kulturen gewöhnt. Als nach dem Krieg Zehntausende von Flüchtlingen untergebracht werden mussten, wurden die nicht immer gut behandelt. Trotzdem sind viele geblieben. Misstrauisch beäugt wurden zunächst auch Künstler, Journalisten, Ärzte und Architekten aus Hamburg und Berlin, die schon in den 60er-Jahren das Leben auf dem Land für sich entdeckten. Tausende kamen in den 70er-Jahren zu den Castor-Demos. Viele sind gleich geblieben, bald bestens integriert. Andere wie der spätere Bundeskanzler Gerhard Schröder sind wieder weggezogen. Die „Kulturelle Landpartie“, bei der Künstler und Handwerker in Dutzenden von „Wunderpunkten“ ihre Werke ausstellen, zieht Zehntausende an. Entstanden ist sie aus dem Widerstand gegen Gorleben. Mit der „Landpartie“ wirbt der Kreis mittlerweile um Touristen.

Nach so viel Zuwanderungswellen sieht man auch die jüngste relativ gelassen. Zudem hat die Landflucht, bei der es junge Leute in die Städte zieht, die Einwohnerzahl in einem der flächenmäßig größten Landkreise nicht nur unter die 50.000er-Marke sinken lassen, sondern auch für Wohnungsleerstand gesorgt. Knapp 700 Flüchtlinge, die dem Kreis zugeteilt wurden, konnten bislang in Wohnungen untergebracht werden – ohne dass auch nur einer dagegen protestiert hätte. Rund 1000 Flüchtlinge hat Niedersachsen auf Notunterkünfte in Lüchow und Dannenberg verteilt – auf ein Containerdorf und eine Kaserne, in denen sonst bei Castor-Demonstrationen Polizisten untergebracht sind. „Endlich“, konnte ein Nachbar eine klammheimliche Freude nicht verbergen, „werden die auch ordentlich genutzt.“

Bis zum nächsten Wochenende, herzlichst Ihr Karl Günther Barth