Mutmacherin Turiya Reimers ist seit ihrer Kindheit an den Rollstuhl gebunden. Trotz ihres Handicaps steht sie als Jazzsängerin der Band Turiazz erfolgreich auf der Bühne. Von Hanna Kastendieck

Edith Piaf hat es gesungen. Jacques Douai, Juliette Gréco, Charles Aznavour gingen die Verse über die Lippen. Beinahe 70 Jahre liegen zwischen der ersten Aufnahme von „Autumn Leaves“, dieses Liedes, das von zwei Menschen erzählt, die sich liebten und zusammen lebten. Die das Leben trennte. Turiya Reimers kennt den Chanson in all seinen Facetten. Weiß um seine Geschichte und die Tragik, die in ihm liegt. Dieser Titel, der ursprünglich für den Film „Les Portes de la nuit“ 1946 entstand, ist ihr Lieblingslied. Wenn die Sängerin die Zeilen über ihre Lippen haucht, bekommt sie selbst eine Gänsehaut.

Und die Zuschauer, die im Saal sitzen, wischen sich verlegen die Tränen aus dem Augenwinkel. Weil die Musik ihnen unter die Haut geht, zum einen. Und weil sie Demut und Hochachtung spüren im Angesicht dieser Künstlerin, die scheinbar Unmögliches leistet. Turiya Reimers sitzt im Rollstuhl. Ihr Körper ist schwach, die Beine und Arme kraftlos. Immer wieder wird die junge Frau von Spastiken geschüttelt. Sie kennt es nicht anders. Hat nie anders gelebt. Ihre Behinderung ist da, solange die 29-Jährige auf dieser Welt ist. Alles wäre anders gekommen, wenn Turiya nicht drei Monate zu früh geboren wäre. Während ihrer Geburt litt sie unter Sauerstoffmangel. Die Folgen bestimmen ihr Leben.

Im Guten wie im Schlechten. Natürlich gebe es Momente, in denen sie traurig sei. Weil sie eben nicht einfach das machen könne, wonach ihr der Sinn steht. Weil vieles beschwerlich sei oder gar unmöglich. Und weil sie stets um Hilfe fragen muss, wenn sie etwas möchte. Unabhängigkeit, sagt sie, das wäre schon was. Einfach mal losziehen, spontan, in einen Jazzclub. Und bleiben, solange man Lust hat. Ganz allein.

Gedanken, die Turiya Reimers gleich wieder verwirft, kaum dass sie ausgesprochen sind. Sie hält nichts von Schwermut. Von diesen „Hätte-wäre-wenn-Fragen“. Sieht stattdessen, was ist. Was sie kann. Dann holt sie tief Luft und beginnt zu singen. Und mit jedem Ton, der aus ihrem scheinbar kraftlosen Körper klingt, erwacht auch das Leben in ihr. Sie zieht die Augenbrauen hoch, hebt die Arme, strafft ihren Oberkörper. „Wenn ich singe, vergesse ich meine Behinderung“, sagt sie.

Also singt sie. Schon als kleines Mädchen hat sie nichts anderes im Kopf als die Musik. Ihr Vater, selbst Musiker, fördert seine Tochter wo immer es geht. Er begleitet seine Tochter am Klavier, schult ihre Stimme, hilft ihr, die Atmung zu kontrollieren und bringt ihr den Blues bei. Die Eltern schicken ihre Tochter in die Schule Elfenwiese, fahren sie Woche für Woche zur Chorprobe ihres Gospelchors. Sie bezahlen einen Gesangslehrer und sind bei jedem Auftritt in der ersten Reihe dabei.

Turiya ist ehrgeizig. Sie will auf die Bühne, auch beruflich. Sie macht ihren Hauptschulabschluss, lernt einen Jungen kennen, in den sie sich verliebt. Dennis heißt er, spielt Keybord. Gemeinsam machen sie Musik. Gemeinsam bewerben sie sich bei barner 16, einem inklusiven Netzwerk professioneller Kulturproduktionen von Künstlern mit und ohne Handicaps.

Insgesamt 80 feste und freie Mitarbeiter mit und ohne Behinderungen spielen im Rahmen dieses Netzwerkes in Bands, produzieren Musik, treten auf oder gehen auf Tournee. Sie entwickeln Bühnenproduktionen und Tanzperformances. Es entstehen Kurzfilme und Musikvideos. Im Labor für künstlerische Experimente arbeiten Schwerstmehrfach-Behinderte an Gemälden, Trickfilmvideos und Klangkunst. Beim Label 17records und der Agentur 17booking wird die kaufmännische und organisatorische Seite künstlerischer Vermarktung und Produktion organisiert.

Dennis schafft die Aufnahme nicht. Turiya aber kann die Zuhörer beim Casting überzeugen. Sie bekommt einen der begehrten Plätze bei barner 16. Ihr erster Gesangslehrer will die junge Frau auf Pop trimmen. Doch Turiya hat ihren eigenen Willen. Sie will Jazz singen, Balladen. „Weil ich das Melancholische liebe“, sagt sie, die selbst nah am Wasser gebaut ist, oft sehr emotional reagiert. Dann zum Beispiel, wenn Leute glauben, sie sei aufgrund ihrer Behinderung nicht in der Lage klar zu denken. Wenn sie Mitleid erfährt. Und sie das Gefühl beschleicht, dass andere sie nicht ernst nehmen, nur weil sie im Rollstuhl sitzt.

„Ich möchte nicht durch Musik therapiert werden“, sagt sie. „Ich möchte hier etwas lernen. Und als Musikerin auf der Bühne stehen, die Bock hat, Musik zu machen – und nicht als Behinderte, die durch Musik weniger behindert erscheinen soll.“ Also übt sie. Jeden Tag. Jeden Tag ist sie von 9 bis 15.30 Uhr im barner 16 in Altona. Zweimal in der Woche bekommt sie Gesangsunterricht bei Beate Kynast. Die Jazzsängerin, die in den Bands Blue4U und Crosstown Traffic singt, ist ihr großes Vorbild. Hinzu kommen die Bandproben für ihre eigene Band Turiazz, zu der Sängerin Birgit Jansen, Pianist Alexander Hopff, Schlagzeuger Peter Purhorn und Bassist John Hughes gehören. Auch wenn sie zu Hause, in ihrer Wohngruppe im Senator-Neumann-Heim in Bergedorf ist, studiert sie die Stücke. „Girl from Ipanema“, „I can’t give you anything but love“ gehören dazu. Inzwischen umfasst das Repertoire etwa 20 Stücke. Mit diesen steht sie regelmäßig auf der Bühne, bei Vorstandsempfängen ebenso wie bei Stadtfesten oder der Nacht der Kirchen. Der Applaus überwältigt sie jedes Mal. Doch es gibt auch Situationen, da steht ihr das Publikum gegenüber und gafft sie an, als wäre sie nicht von dieser Welt. Es sind Momente, in denen ihr die Stimme wegzubleiben droht. „Ich möchte dann am liebsten schreien: Was ist los? Gefällt euch meine Musik nicht?“, sagt sie.

Insgeheim weiß sie, dass nicht alle damit umgehen können, wenn jemand mit Behinderung auf der Bühne steht. Menschen, die nicht wissen, ob sie Mitleid haben müssen. „Sie müssen es nicht“, stellt Turiya Reimers klar. „Warum auch? Ich mache mit meiner Musik genau das, was mich glücklich macht. Und ich habe auf diesem Weg echte Freunde gefunden. Mehr kann ich vom Leben nicht erwarten.“

Infos zur Band und zu barner 16 unter Tel. 22627307 oder www.barner16.de