Das Bundesjugendballett aus Hamburg traf auf behinderte Sportler in Nordrhein-Westfalen. Szenen eines ungewöhnlichen Workshops.

Die Idee zu dem ungewöhnlichen Projekt wurde im Juni 2013 in Hamburg geboren. Das Ehepaar Petra und Stephan Adomeitis, das seit 2001 monatlich bis zu 70 Stunden Ehrenamt in eine integrative, barrierefreie Sportgruppe in ihrem Verein, dem TV Schiefbahn 1899 in Willich bei Mönchengladbach, investiert, war gerade mit dem HanseMerkur Preis für Kinderschutz ausgezeichnet worden. Fasziniert vom Auftritt des Bundesjugendballetts bei der Festveranstaltung wurde in Respekt vor der Arbeit des jeweils anderen ein Workshop der Tanzcompagnie mit den behinderten und gesunden Kindern des Inklusionssportvereins in Nordrhein-Westfalen vereinbart. Dessen Motto: „Nicht behindert zu sein ist ein Geschenk, das einem jeden Tag genommen werden kann.“

Am 1. November 2014 war es so weit. Mit den acht internationalen Tänzerinnen und Tänzern aus dem Ballettzentrum Hamburg und 30 Sportlern der Integrativen Gruppen zwischen sechs und 20 Jahren zog in die holzgetäfelte Halle des Vereinsheims an Allerheiligen für acht Stunden die Magie einer Ballettwerkstatt ein. Von Distanz zwischen Profitänzern und den jungen Amateuren war dabei schon beim Aufwärmtraining nichts mehr zu spüren. Kevin Haigen, jahrelang erster Solist und nun Erster Ballettmeister des Hamburg Balletts, streifte sich flugs das gelbe T-Shirt der Willicher Integrationsgruppen („Ja“ zu Inklusion und Toleranz) über, Lukas Onken, Organisatorischer Leiter des Bundesjugendballetts versorgte alle Beteiligten mit Namensschildern aus Kreppband. Kurze Vorstellungsrunde und entlang der musik-tanztheatralischen Performance Out Of The Box, mit dem die Compagnie gerade auf Tournee war, wurden gemeinsame Choreografien erarbeitet – Fantasien über Träume, Wünsche und Erinnerungen.

Das Bundesjugendballett sucht bewusst ungewöhnliche Spielstätten auf, um für die Kunstform Tanz zu begeistern: ob in Kirchen, Museen, Seniorenheimen, Gefängnissen oder psychiatrischen Kliniken. „Diese Erfahrungen machen meine Tänzer zu besseren Menschen“, sagt Ballettmeister Yohan Stegli und Kevin Haigen ergänzt: „Bewegung ist eine sehr schöne Sprache für Emotionen, welche die Seele berühren.“ Fast ehrfürchtig schauen die Willicher Inklusionssportler den Tänzern bei ihren Aufwärmübungen zu. Die 18-jährige Epileptikerin Jacqueline hat vor Aufregung die ganze Nacht nicht geschlafen und blüht jetzt auf, wo alle gemeinsam auf dem Tanzboden ihre ersten Schritte wagen: rhythmisches Stampfen, schnelles In-die-Hocke-Gehen, mit den Händen vornübergebeugt den Boden berührend, Figuren bilden mit den Armen, Polonaise. Fast unmerklich haben die Tänzer die Teilnehmer des Inklusionssportvereins in fünf Gruppen aufgeteilt, in komplexere Figuren und Bewegungsabläufe mitgenommen. Ein Kreis schließt und öffnet sich rhythmisch, mit gestreckten Händen kommen die fallenden Herbstblätter eines Baumes zum Ausdruck. Vor dem Vereinsheim werden Schrittfolgen geprobt, Dreh- und Handfiguren einstudiert. Eine Gruppe wagt es, sich zu Johann Sebastian Bachs Cello-Suite in G-Dur aus dem Stand auf die Arme fallen zu lassen und abzurollen. Und Jacqueline schwärmt: „Ich musste mich mit zwei Jungs auf den Boden fallen lassen und drehen. Das habe ich schnell auswendig gelernt und gut hinbekommen.“

Als faszinierter Zuschauer des konzentrierten Treibens vergisst man schnell, wer hier die 50 Prozent Gesunden und wer die Kinder und Jugendlichen mit Handicaps sind. Jene mit Spasmen, Epilepsien, geistigen Behinderungen, Trisomie 21, mit psychosozialen Problemen infolge sexueller und körperlicher Misshandlung, mit Leukämie, schweren Sehbehinderungen oder koronaren Erkrankungen.

Die geistig behinderte Carla, 17, tanzt selbst vor. In ihrem Gesicht spiegeln sich Begeisterung, Erstaunen und Respekt. Ihr, dem 16-jährigen Julius mit Down-Syndrom und dem 10-jährigen Spastiker und Epileptiker Yukatan gilt an diesem Tag Kevin Haigens ganze Aufmerksamkeit. Höchst sensibel bezieht er sie in die Choreografien ein und zaubert ihnen ein Lächeln ins Gesicht, wenn minimale Bewegungsabläufe und Figuren klappen.

Die Kinder gehen über ihre Grenzen, stehen endlich mal im Mittelpunkt

So entstehen zur Musik von Fauré, Ravel und Tschaikowsky sakral schöne Bewegungen, wenn die Willicher Kids von den Tänzern an die Hand genommen werden. Es gibt Momente von großer Klarheit und Konzentration, Bilder von großer Würde und Schönheit. Zu Maurice Ravels „Ma Mère L’Oye“ fällt der Satz: „Wenn Du Deinen Blick auf die Dinge änderst, ändern sich die Dinge, die Du anschaust.“ Und tatsächlich schärften der Workshop und die sich anschließende 45-minütige Aufführung auch die Wahrnehmung für die Bedeutung der Inklusion. Übungsleiterin Petra Adomeitis schwärmte: „Die Kinder sind über ihre Grenzen gegangen. Ich schaue in viele glückliche Augen, da das Team so empathisch auf unsere Sportler eingegangen ist. Sie standen im Mittelpunkt und nicht im Abseits.“

Schließlich hallt nicht enden wollender Applaus durch das Vereinsheim. Viele Eltern, Techniker und Kinder verdrücken die eine oder andere Träne und wissen kaum wohin mit ihren Emotionen. Wer friert uns diesen Moment ein? Der Regisseur Dominik Graf hat einmal gesagt: „Manchmal ist das Herz zu klein für die Gefühle, wie eine schrumpelige Erdnuss.“ Jacqueline bringt es weinend auf den Punkt: „Heute ist der schönste Tag, viel besser als mein Geburtstag. Aber es fühlt sich an wie ein ,Leb wohl für immer‘.“

Doch bevor der Bus des Bundesjugendballetts mit einer La-Ola-Welle vor dem Vereinsheim verabschiedet wird, kann die Fortsetzung der Geschichte vereinbart werden: die Tanzcompagnie und die Integrativen Gruppen des TV Schiefbahn werden im Sommer 2015 das Rahmenprogramm der Verleihung der 34. HanseMerkur Preise für Kinderschutz in Hamburg gestalten.