Mutmacher Helmut Behnke ist Trainer beim Eimsbütteler TV. Heute trainiert er vor allem behinderte Kinder. Dafür erhielten er und die Judo-Abteilung den Förderpreis der Kroschke-Kinderstiftung.

Die Jacke zusammengehalten von einem schon etwas abgewetzten schwarzen Gurt, betritt Helmut Behnke in seinem weißen Kampfanzug die Judohalle eins im unteren Stockwerk des Eimsbütteler Turnverbands. Eine leichte, aber deutliche Verbeugung, eine Drehung um 180 Grad, die schwarzen Stroh-Flipflops bleiben am Mattenrand zurück. Und schon ist der Trainer dort, wo er sich am wohlsten fühlt: mit Kindern im Dojo – dem Übungsraum für Judo. Es ist Donnerstagnachmittag und die, die hier um ihn und die drei weiteren Trainer herumtollen, sind anders als andere. Sie sind Kinder mit besonderen Bedürfnissen.

Wenn Helmut Behnke sie so nennt, klingt es, als habe er diesen Begriff selbst erfunden. Früher sprach jeder von Behinderung. Aber das passt für den Judoka, der als 6. Dan zu den Hochgraduierten in Deutschland gehört, nicht. Er zählt die Gründe für die besonderen Bedürfnisse auf: ADHS, Asperger Syndrom, frühkindlicher Autismus, Trisomie 21, Entwicklungsverzögerungen, halbseitige Parese, Blindheit, Diabetes, Epilepsie, Übergewicht. Und alles in einer Gruppe. Der Kleinste hier ist acht. Pedro hat Trisomie 21. Er ist das zweite Mal beim Training und traut sich heute das erste Mal auch ohne Betreuerin zu den anderen auf die Matte. Helmut Behnke nimmt den Jungen an der Hand, führt ihn zum Mattenrand, sie sitzen nebeneinander auf dem Boden, an die Wand gelehnt. Beide lächeln. Die nächste Aufgabe meistern sie gemeinsam. Pedro lässt sich auf die andere Seite des Übungsraums rollen. Drüben angekommen sitzen sie wieder nebeneinander an der Wand und lächeln. Zwei, die Judo machen.

Für den Trainer ist Judo heute mehr als nur ein Wettkampfsport

Helmut Behnke ist vor einem Monat 64 Jahre alt geworden. Viele würden im Judo nur den Wettkampfsport sehen, sagt er. „Die hören dann auch irgendwann auf.“ Er nicht. Für ihn fängt das jetzt gerade erst richtig an. Früher waren ihm Erfolge wichtig, war es wichtig, Wettkämpfe zu gewinnen, egal ob als Sportler oder als Trainer. Zweimal wurden Frauen aus seiner Trainingsgruppe deutsche Meisterinnen. „Aber ich habe mich geändert“, sagt er. Mittlerweile sei Judo für ihn eher eine Lebenseinstellung. Erfolg ist jetzt, wenn die elfjährige Lisa auf einem Bein stehen kann. Er spricht lieber von den psychosozialen Möglichkeiten, die sein Sport Kindern bietet, als von Medaillen. „Es ist eine Art Lebenshilfe. Die Kinder lernen Fertigkeiten wie Gleichgewicht, Wahrnehmung, Konzentration und räumliche Orientierung. Und wie sie sicher und verletzungsfrei fallen können.“

Nach gefühlt hundert verschiedenen Möglichkeiten, sich zu zweit von einer Wand des Dojos zur anderen zu bewegen, beginnt die Bodenarbeit. Ein Schüler liegt auf der Matte, ein zweiter auf ihm und der hält den unteren, laienhaft gesagt, im Schwitzkasten. Eigentlich eine ernste Sache, weil sie im richtigen Kampf über Sieg oder Niederlage entscheidet. Trotzdem kriegt sich Frank vor Lachen nicht ein. Im „richtigen Leben“ hat der Zehnjährige ADHS. Beim Judo schafft er es, sich nach dem Kampf bei seinem Gegner zu bedanken und sich zu verbeugen.

Was die Kinder hier vermittelt bekommen, stärkt nicht nur ihre Muskeln, sondern auch ihre Persönlichkeit. Respekt füreinander, Hilfsbereitschaft, Höflichkeit, Wertschätzung, aber auch Ehrlichkeit, Mut, Ernsthaftigkeit, Bescheidenheit und Selbstbeherrschung gehören zu den neun offiziellen Judo-Werten. „Unser Trainingsgerät ist eben ein Mensch“, sagt Helmut Behnke. „Wenn ein Tennisschläger kaputtgeht, kriege ich einen neuen. Mit Menschen ist das nicht so einfach.“ Der Gegner ist immer auch Partner, einer, auf den man aufpasst und von dem man möchte, dass es ihm gut geht.

Helmut Behnke selbst fing spät mit dem Judo an. Er war 17. Sein erstes Training hatte er am 6. Februar 1968 im Haus der Jugend. Los ging’s um 19 Uhr. Ein wichtiges Datum in seinem Leben. „Ich hatte mit Herbert Kruse einen wunderbaren Lehrer und war sofort judoverrückt“, sagt er. Herbert Kruse bekam die Entwicklung seines Schülers allerdings nicht mehr mit, er starb im Sommer 1973 bei einem Tauchunfall vor Sardinien. Helmut Behnke erreichte die Nachricht per Telegramm in Japan. Ein halbes Jahr war er damals als Student in Tokio und trainierte jeden Tag im Kodokan Dojo. An einen Kampf erinnert er sich besonders gut: „Der Mann war blind und sogar leichter als ich. Aber ich habe ihn nicht werfen können. Er spürte jede meiner Bewegungen ganz genau und reagierte sofort.“ Der Kampf endete unentschieden. Aber Helmut Behnke hatte eine Erkenntnis gewonnen: dass es im Judo auch darum geht, zu spüren, wohin und wie der andere sich bewegt. Als er nach seiner Rückkehr als Trainer im ETV anfängt und in den 80er-Jahren Leiter der Abteilung Judo wird, gründet Sigrid Happ, Sportpädagogin der Uni Hamburg, gerade eine Gruppe mit blinden und sehgeschädigten Jugendlichen und Erwachsenen. Lange, bevor von Integration und Inklusion überhaupt die Rede war. Helmut Behnke ist begeistert.

Das nächste Projekt wendet sich an traumatisierte Jugendliche

Sich auch der Kinder und Jugendlichen anzunehmen, die anders sind, bleibt für Helmut Behnke wichtiger Teil seiner ehrenamtlichen Arbeit in der Judo-Abteilung. „Wir müssen in die Zukunft investieren“, sagt er. Und überzeugte die Vereinsführung vor zwei Jahren davon, für Inklusion und Integration einen Fonds zu gründen, aus dem abteilungsübergreifend derartige Gruppen unterstützt werden können. Den Grundstock des Fonds bildeten 15.000 Euro des Werner-Otto-Preises, den die Judoabteilung 2012 für ihre Arbeit erhielt. Nun nahm Helmut Behnke stellvertretend für die 600 Mitglieder der Judo-Abteilung des ETV einen weiteren Preis entgegen: den Förderpreis „Beispielhafte Hilfe für kranke Kinder“ der Kroschke-Kinderstiftung. Und das nächste Projekt ist auch schon in Sicht: Judo mit traumatisierten Kindern aus Kriegsgebieten, die mit ihren Eltern in Hamburg als Asylbewerber leben.

Es ist kurz vor 18 Uhr, als Lisa, Pedro, Frank und die anderen Kinder mit besonderen Bedürfnissen in der Mitte der Trainingsfläche einen großen Kreis bilden. Sie stehen konzentriert, verbeugen sich. Eigentlich hört mit diesem Ritual jedes Training auf. Aber heute wird noch Franks Geburtstag nachgefeiert. Der teilt Schokolade aus und auch Helmut Behnke bekommt etwas davon ab. Für ihn ein Beispiel dafür, „weshalb der Judo-Bund als zehnten Wert Freundschaft in seine Liste mit aufgenommen hat“, sagt er. Dann geht er zum Mattenrand, macht eine Drehung um 180 Grad, verbeugt sich und schlüpft in seine Stroh-Flipflops. Neben ihm verbeugt sich Lisa und steigt in ihren Schuh mit der orthopädischen Stütze.