Seit dem Frühling 2013 gibt es den Neuen Kupferhof, ein Kurzzeit-Zuhause für Familien mit schwerstbehinderten Kindern. Hier können Eltern eine Pause vom Alltag machen. Wir haben nachgefragt, wie das Angebot angenommen wird.

Sie können sich nicht mehr erinnern. Daran, an einen gedeckten Frühstückstisch zu treten, in den Tag zu trödeln, die Zeitung zu lesen und Pläne zu machen. Darüber zu philosophieren, ob es zum Bummeln in die Stadt geht oder lieber zum Staunen ins Museum. Ob es ein langer Spaziergang sein soll oder ein wenig Entspannung am Strand. Sie haben es beinahe verlernt, einmal nur an sich zu denken. Etwas zu tun, was nicht sein muss, sondern darf. Seit viereinhalb Jahren dreht sich ihr Leben ausschließlich um Hannah. Ihre Tochter. Ihr schwerstbehindertes Kind.

Und jetzt ist plötzlich Pause. Pause von der ständigen Sorge und dem Umsorgen. Auszeit von der Verantwortung. Reinhard und Barbara Hauser können es noch nicht so richtig fassen, dass so etwas möglich ist. Dass sie einen Ort gefunden haben, an dem sie loslassen können. Hannah loslassen, weil diese gut versorgt ist. Die Verantwortung loslassen, weil andere sie übernehmen.

Dass so etwas überhaupt möglich ist, verdanken sie Steffen Schumann und Frank Stangenberg. Die beiden Unternehmer, selbst Väter von zwei schwerstbehinderten Söhnen, betreiben seit einem Jahr den Neuen Kupferhof, ein Kurzzeit-Zuhause für Kinder und Jugendliche mit Behinderung und ihre Familien. Ein Ort zum Auftanken und Abschalten direkt am Wohldorfer Wald. Kinderkrankenschwestern, Heilerziehungspfleger, sozialpädagogische Fachkräfte und Ehrenamtliche kümmern sich hier um die Betroffenen und sorgen dafür, dass ihre Eltern für ein paar Tage im Jahr entlastet werden.

Für die meisten von ihnen ist der Aufenthalt im Kupferhof der einzige wirkliche Urlaub. Die einzige Chance, für ein oder zwei Wochen das Kind in gute Hände abzugeben und einmal tief Luft zu holen.

Die Idee hatte Steffen Schumann vor sechs Jahren. Das war im Dezember 2008. Damals entdeckte er beim Joggen im Duvenstedter Brook dieses herrschaftliche Haus – den Kupferhof in Wohldorf, eine ehemalige Tagungsstätte der Stadt. Wenige Monate zuvor hatte er gemeinsam mit Frank Stangenberg den Verein „Hände für Kinder“ gegründet. Die Väter hatten eine Vision: Sie wollten einen Ort schaffen, an dem schwerstbehinderte Kinder und Jugendliche für einen kurzen Zeitraum betreut werden. Ein Haus, in dem auch Eltern und Geschwister abschalten, durchatmen und Kraft tanken können. Er wusste, dass dieser Weg steinig sein würde. Aber er war bereit, ihn zu gehen.

Scheinbar Unmögliches haben Schumann und Stangenberg in den vergangenen Jahren erreicht. Sie mobilisierten Spendengelder und helfende Hände, erwarben das Gebäude und nahmen einen Kredit für den Umbau auf. Die Finanzierung des laufenden Betriebs konnten sie durch die Sozialbehörde und die Pflegekasse sichern. Aus der alten Villa ist ein kleines Paradies geworden. Es gibt eine Küche, den Speisesaal, einen Wintergarten, eine große Terrasse, Freizeit- und Therapieräume und viele Rückzugsorte für die Familien. Insgesamt stehen zwölf Zimmer für die Gästekinder und zwölf Zimmer für ihre Familien zur Verfügung. Sie können bis zu 28 Tage im Jahr kommen. Die Kosten für das behinderte Kind übernimmt die Pflegekasse über die sogenannte Eingliederungshilfe. Die Eltern und Geschwister müssen ihren Aufenthalt selbst zahlen. 30 Euro zahlt ein Erwachsener pro Nacht inklusive Halbpension. Ein Erwachsener mit Geschwisterkind 40 Euro, ein Ehepaar 50 Euro und eine ganze Familie, egal mit wie vielen Kindern, 60 Euro.

Reinhard und Barbara Hauser sind zum ersten Mal zu Gast im Neuen Kupferhof. Sie kommen aus Karlsruhe, haben über die Lebenshilfe von der Einrichtung in Hamburg erfahren. Jetzt sitzen sie im Licht der Herbstsonne. In warmen Strahlen fällt es durch die vier Meter hohen Sprossenfenster der Villa. Sie haben lange und ausgiebig gefrühstückt, das Kulturprogramm der Stadt studiert.

Nachher wollen sie an den Hafen, mit dem Schiff fahren. Einen Kaffee trinken gehen. Vielleicht noch ins Museum. Oder ins Musical. Oder am liebsten alles auf einmal.

Nebenan im Wintergarten sitzt Hannah. Die Pflegerinnen haben ihren kleinen Rollstuhl in einen Kreis geschoben. Links und rechts von ihr sitzen weitere Kinder. Sie alle haben schwerste Behinderungen. Und doch ist die Stimmung gut. Es wird gesungen. Hannah hört zu. Sie mag Musik.

Keiner weiß genau, wie viel das kleine Mädchen tatsächlich von seiner Umwelt wahrnimmt. Wann es Hannah gut geht und wann schlecht. „Das ist das eigentlich Bedrückende“, sagt die Mutter. „Dass ich meine Tochter nicht verstehen kann.“ Hannah leidet unter einer Gehirnfehlbildung. Muscle Eye Brain heißt der genetische Defekt. Das Risiko, dass ein Elternteil diesen Gendefekt in sich trägt, liegt bei 1:100.000. Sowohl Reinhard als auch Barbara sind Träger. Sie wussten davon nichts, bis Hannah auf die Welt kam. Das war am 28. Dezember, vier Wochen zu früh. Das Kind war größer als normal. Kurze Zeit später war klar: Das Mädchen hat einen Gendefekt. Es leidet unter muskulärer Hypotonie und Augenfehlbildungen wie dem Grauen und Grünen Star. Hinzu kommen epileptische Anfälle. Unzählige Operationen hat die Kleine bereits hinter sich. „Kein Mensch kann uns sagen, wie Hannah sich weiterentwickeln wird“, sagt Barbara Hauser. „Sie hat Fortschritte im Kleinen gemacht und sie ist in ihrer kleinen Welt eine ganz ehrgeizige Person.“

Zu Hause in Karlsruhe besucht sie eine Kita, sie hat Rollstuhlfahren gelernt und kann inzwischen Mama und Papa sagen, wenn auch ohne Bezug. Die Eltern wissen nicht, wie lange ihre Tochter leben wird. Sie wissen nicht, ob es ihr morgen besser gehen wird oder schlechter. Was sie aber wissen, ist, dass sie jeden Tag mit ihr so gut wie möglich gestalten wollen. Auch deshalb sind sie in den Kupferhof gekommen. Weil es Hannah nur dann gut gehen kann, wenn es den Eltern gut geht. Auch Kupferhof-Geschäftsführer Steffen Schumann hat diese Erfahrung gemacht. Er weiß, wie kostbar eine Auszeit sein kann und wie wichtig es für den Zusammenhalt der Familie ist, die Verantwortung für ein schwerstbehindertes Kind auch mal abzugeben. Damit Eltern eben nicht nur noch ausschließlich funktionieren. Damit sie auch als Paar noch stattfinden, zu zweit etwas erleben und wenigstens ein paar Nächte im Jahr durchschlafen können.

All das wollte Schumann im Neuen Kupferhof möglich machen. Für diese Idee hat er viel gewagt, seinen Job als Unternehmensberater gekündigt, das feste Einkommen aufgegeben. Er hat Menschen und Unternehmen für sein Projekt begeistert, Unterstützer wie den Abendblatt-Verein „Kinder helfen Kindern“, die Haspa Hamburg Stiftung, das Hamburger Spendenparlament, die Johanniter und viele Hamburger Spenden gesammelt und einen Kredit von 2,5 Millionen Euro aufgenommen. Am 19. April 2013 wurde das Haus offiziell eröffnet. Die Nachfrage der Gäste, die aus ganz Deutschland kommen, zeigt, wie wichtig ein solches Angebot ist. Die Auslastung des Hauses liegt inzwischen bei rund 60 Prozent. Das ist gut. Und dennoch weiß Schumann, dass es im Neuen Kupferhof nicht anders laufen wird als bei anderen, vergleichbaren Einrichtungen. „70 Prozent der Gelder müssen auch künftig von außen gesammelt werden“, sagt er.

Reinhard, Barbara und Hannah Hauser werden auf jeden Fall wiederkommen. „Wir haben hier ein Haus voller menschlicher Wärme gefunden, einen Ort, an dem es uns allen gut geht“, sagt Barbara Hauser. „Hier dürfen wir alles, müssen nichts. Und wir können ohne Angst unterwegs sein.“ Sie hatten fast vergessen, wie sich das anfühlt.

Infos: Hände für Kinder e. V., der Neue Kupferhof, Tel. 64532520, www.haendefuerkinder.de