Wenn die Eltern unter einer psychischen Erkrankung leiden, ist das für Kinder schwer zu verstehen. Sie glauben häufig, dass sie verantwortlich sind. „wellengang.hamburg“ bietet Gruppen für betroffene Jugendliche an.

Manchmal war Mama wie eine Bombe, kurz vor dem Platzen, sagt Saskia. Wenn der Schulranzen der Zehnjährigen im Flur stand statt in ihrem Zimmer, wie ihre Mutter es wollte, konnte das eine Explosion auslösen. Die Mama wurde dann laut, gemein, kreischte, beschimpfte ihre Tochter, warf mit Spielsachen nach ihr. Saskia saß nur still da, versuchte, dem Orkan standzuhalten, ohne sich zu wehren. War ihre Mutter wieder bei Sinnen, schämte diese sich. Heute ist Saskia eine Frau Mitte 40, die ihren Namen nicht öffentlich nennen will. Sie hat selbst psychische Probleme. Einer regelmäßigen Arbeit kann sie nicht nachgehen. Als ihre Mutter starb, konnte sie nicht einmal weinen.

Saskia ist ein Beispiel dafür, was mit einem Kind passieren kann, wenn die Mutter oder der Vater psychisch erkranken. Und wenn keiner da ist, der hinschaut, sich einmischt und hilft. Von diesen Kindern gibt es viele in dieser Republik. Etwa 13 Millionen Kinder und Jugendliche leben in Deutschland. Geschätzte drei Millionen von ihnen, also fast jedes vierte Kind, wächst mit einem Elternteil auf, das an einer psychischen Störung leidet. Damit sind nicht alltägliche Stimmungsschwankungen gemeint, sondern Erkrankungen, die das Leben deutlich beeinträchtigen und behandlungsbedürftig sind, wie etwa Alkohol- und Drogensucht, Psychosen, Depressionen und Manien, Angst- und Essstörungen sowie Persönlichkeitsstörungen. 33,3 Prozent aller Erwachsenen leiden nach Angaben der DEGS-Studie des Robert Koch-Instituts von 2012 mindestens einmal im Leben an einer solchen Erkrankung. Bei mehr als einem Drittel treten mehrere dieser Störungen gemeinsam auf.

„Je jünger das Kind ist, desto gravierender können die Folgen für seine Entwicklung sein“, sagt Juliane Tausch. „Die psychischen Grundlagen für Urvertrauen und Bindungsfähigkeit werden vor allem in den ersten Lebensjahren gelegt. Erfährt ein Kind dann keine körperliche und seelische Sicherheit und Verlässlichkeit, keine sinnvollen Grenzen, aber auch keine Ermutigung bei seiner allmählichen Lösung aus der Abhängigkeit von den Eltern, fühlt ein Kind sich zunehmend verunsichert, ratlos und überfordert.“ Juliane Tausch ist Sozialpädagogin. Sie arbeitet beim Hamburger Jugendhilfeträger Aladin e.V., der jetzt ein neues Projekt gestartet hat. Es heißt „wellengang.hamburg“ und richtet sich an Kinder und ihre seelisch belasteten Familien. In der vergangenen Woche ist die erste therapeutische Kinder- und Jugendgruppe, die „wellengÄng“, an den Start gegangen. In elf Treffen vermitteln hier erfahrene Therapeuten den minderjährigen Teilnehmern, wie sie mit den Belastungen der Eltern umgehen und woraus sie Kraft und Stärke ziehen können. Weitere Gruppen sind geplant, ebenso wie eine Telefonberatung.

Juliane Tausch weiß aus Erfahrung, wie wichtig dieses Angebot ist. „Immer wieder kommen Familien mit vielfältigen Problemen zu Aladin“, sagt sie. „Zwei Drittel davon bringen eine psychische Erkrankung mit.“ Dann gehe es zunächst einmal darum, sich um das Nötigste zu kümmern, „den Alltag gangbar zu machen“, wie es Juliane Tausch nennt. Dazu gehört es, einen Kita-Platz zu organisieren, Anträge bei der Arge einzureichen, dafür zu sorgen, dass etwas Essbares im Kühlschrank ist. Erst später kommen die eigentlichen Probleme ans Tageslicht. „Dann erleben wir häufig, dass ein oder beide Elternteile große psychische Probleme haben“, sagt Juliane Tausch. Und während man versuche, den Eltern zu helfen, würden häufig die Nöte der Kinder vergessen. Dabei sind sie es, die besonders leiden. Sie haben ein deutlich erhöhtes Risiko, selbst eine psychische Störung zu entwickeln. Bislang gibt es keine verlässlichen Zahlen dazu, wie häufig betroffene Kinder womöglich auch erst später im Leben selbst psychisch erkranken. Denn ihre Bedürfnisse werden überhaupt erst mit der Zeit wahrgenommen. „Diesen Kindern möchten wir helfen“, so Tausch.

Zum einen durch das konkrete Angebot von „wellengang.hamburg“, zum anderen durch politisches Engagement. Kürzlich wurde beim Familienausschuss des Deutschen Bundestages ein Antrag auf Einrichtung einer Sachverständigenkommission „Hilfen für Kinder und Familien mit psychisch kranken Eltern“ eingereicht. Gefordert wird mehr Koordination zwischen Hilfsangeboten und finanzieller Unterstützung. Denn: Kümmert sich ein niedergelassener Therapeut neben seinem erwachsenen Patienten auch um das Wohl der Kinder, bekommt er bisher kein Geld dafür. „Weil aber der Bedarf da ist, haben wir gehandelt“, sagt Juliane Tausch. Sie haben Spendengelder gesammelt, wodurch jetzt die wellengÄng für zwei Jahre stattfinden kann.

Die Jugendlichen zwischen elf und 17 Jahren entscheiden selbst, ob sie das Hilfsangebot nutzen wollen. In der Gruppe erfahren sie, dass sie mit ihrer Situation nicht allein sind. Und dass sie nicht die Verantwortung für das Verhalten ihrer Eltern tragen. „Du bist nicht schuld!“, das ist die wichtigste Botschaft. Sie lernen auch, mit Unterstützung von Therapeuten über das, was zu Hause geschieht, zu sprechen. Die Dinge in Worte zu fassen und zu begreifen. Es werden Notfallpläne entwickelt für die Tage, an denen es Mutter oder Vater besonders schlecht geht. Wer hilft, wenn Mama ausfällt? Wo kann ich hingehen, wenn zu Hause die Stimmung mies ist? Gibt es Freunde? Die Kinder lernen auch, mit den Problemen der Eltern umzugehen. Und wann es Sinn macht, sich zurückzuziehen.

Kontakt: wellengang.hamburg, Tel. 38 66 669 60, www.wellengang-hamburg.de