Mutmacher: Vor zehn Jahren verlor Karsten Dombrowski bei einem Motorradunfall einen Teil seines linken Beins. Wenige Jahre später erkrankte der 37-Jährige an einem Hirntumor. Statt zu verzweifeln, spricht er vom Reichtum seines Lebens.

Wie viele Schicksalsschläge passen in den Rucksack des Lebens eines Menschen? Was kann ein Einzelner ertragen? Wann ist das Maß der Belastung voll? Wann weicht der Lebensmut der Todessehnsucht? Wann ist es endlich genug? Diese Fragen stehen im Raum, wenn man diese Geschichte hört. Die Geschichte dieses jungen Mannes, der in einem kleinen Einfamilienhaus am Rande von Buchholz in der Nordheide lebt. Karsten Dombrowski heißt er. Er ist 37 Jahre alt. Vor zehn Jahren hatte er einen Unfall.

Es ist der 3. August 2004, ein heißer Sommertag. Karsten Dombrowski ist bei seinen Eltern zu Gast. Seine Mutter möchte einen Kuchen backen. Sie bittet ihren Sohn, ein Pfund Butter zu holen. Karsten macht sich auf den Weg. Er nimmt die Landstraße zwischen Salzwedel und Uelzen. In einer Kurve verhakt sich der Gaszug seines Motorrades. Er will abbremsen, doch die Maschine gibt Gas, rutscht vom Asphalt in die Böschung. „Ich habe versucht, den Aufprall zu steuern“, erinnert er sich. Er rast auf zwei Bäume zu. Karsten spreizt Arme und Beine ab, um die Fluggeschwindigkeit zu drosseln. Doch plötzlich ist dort ein Ast. Der Ast, nicht dicker als ein Besenstiel, durchtrennt das linke Bein unterhalb des Knies. So glatt wie ein geschliffenes Messer. Alarmierte Rettungssanitäter bringen den Verletzten nach Hamburg. Den abgetrennten Fuß nehmen sie mit.

Karsten Dombrowski kommt ins Unfallkrankenhaus Boberg. Er ist in jenem Sommer eines von vielen Opfern, die durch Motorrad- und Badeunfälle Gliedmaße verloren haben. Manche von ihnen sitzen im Rollstuhl, weil der Aufprall ihre Halswirbel zersplittert hat wie nach einem Hammerschlag. Sie werden für immer gelähmt bleiben.

Im Krankenhaus Boberg erzählt er 2004 im Abendblatt von seinem Unfall

Dombrowski ist einer von jenen, die damals ihre Geschichte im Hamburger Abendblatt erzählen. Menschen, deren Leben sich im Sommer 2004 durch einen Unfall verändert hat. Karsten sagt damals: „Ich habe Glück gehabt. Durch den Unfall habe ich erst gelernt, was wirklich wichtig ist im Leben: meine Freundin Melanie.“

Die Geschichte mit Melanie ist längst vorbei. Wenige Wochen nach dem Unfall beendet sie die Beziehung. Und plötzlich ist Karsten allein. Es gibt niemanden mehr an seiner Seite, der ihn motiviert, ihn antreibt, nach vorn zieht. Und dennoch gibt er nicht auf, trainiert hart. Jeden Tag verbringt er Stunden mit der Rehabilitation. Übt, mit der Prothese zu laufen. Die Ärzte operieren auch sein rechtes Bein, setzen ihm eine Platte ein, um den Unterschenkelknochen zu fixieren. Der junge Mann lernt, mit Schmerzen zu leben. Und dass auch kleine Verbesserungen große Fortschritte bedeuten können. Knapp ein halbes Jahr verbringt Karsten Dombrowski in Boberg. Schließlich verlässt er die Klinik auf zwei Beinen. Links sitzt die Prothese, rechts hat er einen Schaft über den zertrümmerten Fuß gezogen. Er glaubt fest daran, dass er von nun an sein Leben im Griff haben wird. Und dass „der da oben“ ihm mit dem Unfall nur zeigen wollte, worauf es im Leben wirklich ankommt. „Nämlich darauf, den Moment zu genießen. Nicht nach hinten zu schauen und mit seinem Schicksal zu hadern.“

Im Sommer 2005, ein Jahr nach dem Unfall, liegt er wieder im Krankenhaus. Die Hüfte ist ihm weggebrochen. Wahrscheinlich ist die Ursache ein Haarriss, den die Ärzte bei der Fokussierung auf die Beine übersehen haben. Wieder bleibt er für Wochen in Boberg. Wenn er davon erzählt, sagt er Sätze wie diese: „Es war eine Hammer-Zeit. Wir haben unendlich viel Spaß gehabt.“ Wir, das sind die Ärzte und Patienten auf der Privatstation, auf der er diesmal gelandet ist. Längst hat Karsten Dombrowski gelernt, das Gute zu sehen.

Vier Wochen nach seiner Heimkehr verschiebt sich die Hüfte. Der Bruch will nicht verheilen. Von nun an steht der Körper schief. Egal, denkt sich Dombrowski. „Wozu sich an Dingen aufreiben, die man nicht ändern kann?“ Er will nach vorn schauen, wieder arbeiten, dazugehören zu denen, die etwas schaffen. Seinen Beruf als Industriemechaniker bei Daimler kann er nicht mehr ausüben. Doch das Unternehmen lässt ihn nicht hängen. 2007 beginnt er ein Studium für Maschinenbau an einer Fachschule im Harzer Städtchen Clausthal. Die Inhalte liegen ihm. Seine Noten sind durchweg gut. Irgendwann merkt er, dass ihm das Lernen schwerer fällt als üblich. Und dass er sich beim Arbeiten nur schlecht konzentrieren kann. Er hat die gleichen Probleme wie schon zwei Jahre zuvor. Damals lässt er sich wegen Kopfschmerzen in einer Klinik in Salzwedel untersuchen. Die Ärzte gehen von einer Gehirnblutung aus. Doch diesmal besteht er auf ein großes MRT. Die Diagnose ist niederschmetternd.

Hirntumor. Die Ärzte sagen, der Krebs sei glücklicherweise nicht bösartig. Sie sagen aber auch, dass sie nicht wissen, ob er im Laufe der Zeit mutieren wird. Karsten Dombrowski sagt gar nichts. Er schwankt zwischen Verzweiflung und Hoffnung. Doch er hat gelernt, aufzustehen, nach vorn zu schauen. „Ich hätte schon beim Unfall tot sein können“, sagt er. „Wäre ich nur einen Meter weiter geflogen, der Ast hätte meinen Kopf abgetrennt. Ich habe eine tolle Zeit gehabt, ein tolles Leben. Dafür sollte ich dankbar sein.“

Wut auf das Geschwür in seinem Kopf hat er keine. „Der Krebs will schließlich das gleiche wie ich: leben.“ Dreimal wird er operiert. Unzählige Chemotherapien macht er durch. Immer, wenn er glaubt, dass der Tumor zurückgeht, geschieht das Gegenteil.

Das schlimmste sind die Bestrahlungen. Jedes Mal hat er das Gefühl, sein Gehirn brennt ihm weg. Er hört auf, das Leben in Zeitzonen zu planen. Nach dem Motto: Das war, das ist, das kommt noch. Er beschließt, nur noch die Zeit zu sehen, die er hat. Und die Tatsache, wie gut sie ist. Er bezeichnet sich als „Gut-Gucker“, sagt: „Das Leben ist das Großartigste, das man hat. Es gibt nichts Größeres. Ich bin vom Reichtum des Lebens beschenkt.“

Vom Reichtum des Lebens beschenkt? Jemand, der sein halbes Bein verliert und dann an einem Hirntumor erkrankt? Und dem die Ärzte höchstens noch ein Jahr geben? Wenn überhaupt?

„Ja“, sagt er. Und dann beginnt er zu erzählen, was er alles hat erleben dürfen, nur weil er den Unfall überlebt hat. Monoski sei er gefahren, „der Hammer“, Basketball hat er gespielt, Sledge-Eishockey, bei dem die Spieler auf einem flachen Metallschlitten über das Eis gleiten, in den Händen den Schläger. Jetzt spielt er noch Tennis im Rollstuhl.

Seine Arbeit hat er aufgegeben. Zwar war er 2008 wieder in die Firma zurückgekehrt. Doch irgendwann war klar, dass er zu krank für die Arbeit ist. 2011 traf er die Entscheidung, in Rente zu gehen.

Seitdem hat er Zeit. Zeit, sein kleines Häuschen am Rande von Buchholz auszubauen. Er fliest das Badezimmer, verziert die Wände mit kleinen Mosaiken. Jeder Quadratmeter dauert eine kleine Ewigkeit. Er weiß, dass die Krankheit mit ziemlicher Sicherheit schneller sein wird als er. Und dass vieles in seinem Leben unvollendet bleiben wird. „Na und?“, sagt er. „Der Weg ist doch das Ziel.“

Es ist nicht das eigene Schicksal, das ihn belastet. Seine größte Sorge ist, dass er mit seinem Schicksal andere belasten könnte. Auch deshalb will er viele Jahre lang keine Freundin haben. Keine Frau an seiner Seite, die eines Tages um ihn trauern würde.

Und dann kommt Ina. Karsten lernt sie Anfang 2012 bei einem Sledge-Eishockey-Spiel kennen. Er ist damals täglich in Bestrahlung, kann also nicht selbst auf dem Feld stehen. Als er Ina auf der Zuschauertribüne sieht, spricht er sie an. Sie verabreden sich. Es ist Liebe auf den ersten Blick.

Sie weiß, dass ihre Zeit begrenzt ist. Karsten sagt dazu: „Wessen Zeit ist das nicht? Wer weiß schon, wie lange er leben wird und wann Schluss ist? Ich habe Spaß im Leben gehabt und durch meine Krankheit viel gelernt. Vor allem, dass das Leben ein Geschenk ist, über das man sich jeden Tag freuen sollte. Ich werde vielleicht 40 – und sterbe. Aber das tut jeder von uns.“