Kinderheldin: Ein Jahr lang kümmerte sich die 23-Jährige um Mädchen und Jungen in Albanien. Jetzt sitzt sie im Vorstand von „Schüler Helfen Leben e.V.“

Die Antwort ließ ihr ein Schauern über den Rücken laufen. Als der Dozent bei der Vorlesung Arbeitsmedizin und Sicherheit die Studierenden fragte, was für sie gute Arbeit bedeute. Und sich die meisten einig waren: Entfaltung und Selbstverwirklichung. Plötzlich waren all die Bilder aus Albanien wieder da. Von Menschen, die sieben Tage in der Woche schufteten, auf staubigen Straßen, in unklimatisierten Räumen, für einen Lohn, der gerade so hoch war, dass sie nicht verhungern mussten. Sie sah die Kinder auf der Straße, die Hände ausgestreckt nach Hilfe. Ihre Armut und Not. Und ihren dankbaren Blick für jede Zuwendung, für jede warme Mahlzeit, jede Stunde Unterricht, die sie ihnen schenkte. Das Wort Selbstverwirklichung gehört nicht zum Wortschatz dieser Menschen.

Vielmehr geht es bei vielen ums Überleben. Yuka Mahn kann stundenlang davon erzählen. Sie kennt den Alltag und die Not der Kinder in Albanien. 14 Monate hat die Hamburger Studentin dort verbracht, um in einem Straßenkinderprojekt zu arbeiten. Es ist ein freiwilliger Einsatz, für den sie ihr Studium des Rettungs- und Ingenieurwesens an der Bergedorfer Fachhochschule unterbricht. Das Fach ist interessant. Aber die ganze Theorie an der Uni ist ihr zu trocken. Sie will wissen, wie es in der Realität zugeht.

„Was könnte beruflich tatsächlich auf mich zukommen?“, fragt sie sich. „Wo wird mein Wissen später in der Praxis gebraucht?“ Über die Organisation „Schüler Helfen Leben“ (SHL) erfährt sie von der Möglichkeit eines Hilfseinsatzes in Albanien. Der Verein, der sich 1992 durch eine Jugendinitiative während des Jugoslawienkrieges gründete, richtet seit 1998 den inzwischen jährlich stattfindenden Sozialen Tag aus. Insgesamt konnten durch alle Sozialen Tage 22 Millionen Euro in Hilfsprojekte investiert werden. Diese umfassen überwiegend die Jugend- und Bildungsarbeit in Südosteuropa sowie die Hilfe für syrische Flüchtlinge in Jordanien. Zu den Projekten, die SHL fördert, gehört auch die Organisation „Arsis“, die in der albanischen Hauptstadt Tirana mit Straßenkindern arbeitet. Als die Studentin davon hört, ist ihr sofort klar: „Da will ich hin.“

Auch wenn die Halbjapanerin, die für das Studium von Stuttgart nach Hamburg gezogen ist, bis dahin kein Wort Albanisch sprechen kann, setzt sie alles daran, den begehrten Platz als jugendlicher Helfer zu bekommen. Sie beginnt die Sprache zu lernen, übersteht mehrere Eignungstests. Am 1.August 2012 sitzt sie im Flieger nach Tirana. Wenige Tage später beginnt sie ihre Arbeit in einem Tageszentrum, isst mit den Kindern, hilft ihnen bei den Hausaufgaben und engagiert sich im Projekt „Mobile School“. Mit einer ausziehbaren Tafel und Kreide macht sie sich auf in die Dörfer außerhalb Tiranas. Sie zeigt den Kindern, wie man rechnet und schreibt. Die Kinder lehren sie die albanische Sprache. Sie lehren sie, wie erfüllend es ist, anderen zu helfen. Sie schenken ihr Vertrauen und Freundschaft. Für die Jugendlichen im Tageszentrum organisiert sie eine Reise in den Kosovo. Für die Jungs ist es die erste Ausfahrt in ihrem Leben. Für Yuka ist es der Höhepunkt ihrer Arbeit.

Als sie Ende September nach Deutschland zurückkehrt, ist ihr klar, dass sie nicht einfach weitermachen kann wie bisher. Sie hat erfahren dürfen, wie wichtig es ist, anderen zu helfen. Hochmotiviert nutzt sie ihre Erfahrungen für das Studium. Gleichzeitig versucht sie, tiefer in die Materie einzusteigen. Sie möchte wissen, wie die Koordination von Hilfsprojekten funktioniert. Im Oktober 2013 besucht sie die Mitgliederversammlung des Vereins „Schüler Helfen Leben“. Sie macht deutlich, dass sie sich engagieren möchte. Die Mitglieder wählen die damals 22-Jährige in den Vorstand.

Seitdem hat sie einen neuen „Fulltime-Job“. Jeden Tag sind E-Mails zu beantworten oder Konferenzen zu organisieren. Jede Entscheidung landet bei ihr. Ob es darum geht, eine Stelle einzurichten, junge Menschen im freiwilligen sozialen Jahr zu begleiten, sich mit dem Stiftungsrat auseinanderzusetzen, immer ist auch ihre Meinung gefragt. Sie reist nach Kiel, Berlin, Münster, nach Serbien, Bosnien, Albanien und Mazedonien. Es ist ihr wichtig, dass sie die Projekte kennt, die sie unterstützen. Kürzlich war sie in einem Flüchtlingscamp in Jordanien. „Ich schaue über den Tellerrand und kann selbst etwas tun“, sagt sie. „Diese Erfahrungen sind für mich unendlich wertvoll.“

Mit dieser Serie erinnern wir an den Ursprung unseres Abendblatt-Vereins „Kinder helfen Kindern“, denn es waren Kinder, die zunächst Kindern halfen. Kennen Sie Kinder oder Jugendliche, die sich für andere Minderjährige engagieren? Vorschläge bitte an: mensch@abendblatt.de, Stichwort: Kinderhelden