Die Stiftung „Ein Platz für Kinder“ baut Schutzhäuser für traumatisierte Drei- bis Zehnjährige. Nach der Einrichtung in Hannover wird nun am 17. Juli die Matttisburg in Schnelsen eingeweiht. Von Sabine Tesche

Auf dem Boden liegt nur noch eine Matratze, alle Möbel sind aus dem bunt bemalten Kinderzimmer entfernt, die Wände haben Löcher und die Fensterscheibe hat einen Sprung. „Moritz hat so in seinem Zimmer gewütet und alles zerschlagen, dass wir nur noch das Nötigste bei ihm reinstellen können. Der Junge ist leider sehr zerstörerisch“, sagt Angelika Elassal-Wolter, stellvertretende Leiterin des KID-Hauses in Hannover. KID, das heißt „Kind in Diagnostik“, ist ein Schutzhaus für Kinder, die vernachlässigt, sexuell oder körperlich missbraucht wurden. In diese Einrichtung werden Kinder bis zu zwölf Jahren vom Jugendamt geschickt, die entweder akut gefährdet sind oder schon viele Institutionen durchlaufen haben – und nirgendwo bleiben konnten. Weil sie zu schwierig sind, sich in Wohngruppen oder Pflegefamilien nicht einpassen konnten. Sie sind schwer traumatisiert, manche richten ihre Wut gegen die Betreuer und Mitbewohner, andere verletzen sich selbst. „Wir werden fast täglich angegriffen, geschlagen oder gebissen. Dennoch fliegt bei uns kein Kind raus. Wir halten das aus und versuchen gleichzeitig herauszubekommen, was den Kindern fehlt“, sagt Elassal-Wolter. Eine Einrichtung wie das KID in Hannover gibt es nur noch in Düsseldorf – und ab dem 17. Juli auch in Hamburg-Schnelsen. Dann wird dort die „Mattisburg“ eröffnet. Initiiert und gebaut wurde sie von der Stiftung „Ein Platz für Kinder“, die auch das ehemalige Gemeindehaus in Hannover 2009 zu einem Schutzhaus umgewandelt hat.

Finanziert werden die Gebäude durch Spendengelder und dann an einen Träger weitergegeben. In Hannover ist es die Bethel-Stiftung, in der Hansestadt wird die Großstadt-Mission Hamburg-Altona das Haus übernehmen. Dort werden ab Herbst zehn Kinder zwischen drei und zehn Jahren einziehen. Beide Träger sind kirchlich und sehr erfahren in der Kinder- und Jugendarbeit. Die Plätze werden vom Jugendamt bezahlt, folglich ist auch die Kooperation mit den Ämtern sehr eng.

Die Kinder sollen erleben, dass ihr Leben auch fröhlich und bunt sein kann

Gründerin der „Ein Platz für Kinder“-Stiftung ist Johanna Ruoff. Die 37-Jährige hatte ursprünglich ein Waisenhaus in Haiti unterstützt, doch nach einem Besuch der KID-Einrichtung in Düsseldorf fand sie, dass es noch mehr dieser Schutzhäuser in Deutschland geben müsste. „Diese schwer traumatisierten Kindern sollen in unseren Häusern Geborgenheit und Sicherheit erfahren und dass das Leben auch fröhlich und bunt sein kann“, sagt Ruoff. So gibt es in der lichtdurchfluteten Mattisburg (den Namen hat sie aus Astrid Lindgrens Buch „Ronja Räubertochter“) nicht nur schön gestaltete, farbige Kinderzimmer, sondern auch einen Tobe- und Malraum. Die Diagnostikräume sind klar vom Wohnbereich abgetrennt. „Wir therapieren nicht, sondern es geht uns darum, die Kinder zunächst zu verstehen. Wir beobachten sie viel, machen unterschiedliche Tests mit ihnen“, sagt Erzieherin Angelika Elassal-Wolter, die eine Zusatzausbildung in Traumapädagogik hat. „Viele Kinder kommen zu uns und reden erst gar nicht. Manchmal dauert es Monate, bis sie sagen, was ihnen zugestoßen ist“, sagt sie.

Durchschnittlich sechs Monate bleiben sie im Schutzhaus, gehen in dieser Zeit in den Kindergarten oder zur Schule – allerdings ohne Leistungsstress. Für die meisten sei es wichtig, zunächst einmal einen strukturierten Tagesablauf und klare Regeln zu erfahren, sagt die Erzieherin. Alle zwei Wochen dürfen die Eltern ihre Kinder besuchen. „Die Arbeit mit den Eltern ist ein weiterer Schwerpunkt bei uns“, sagt Elassal-Wolter. Einige der Eltern sind Täter, ihre Kinder werden nicht zurück zu ihnen gehen, sondern später in Wohngruppen oder Pflegefamilien untergebracht. Dort beginnen sie dann auch mit der Therapie. „Selbst wenn sie dort Schlimmes erlebt haben, ist der Kontakt zur Ursprungsfamilie ganz wichtig“, sagt Elassal-Wolter.

Sie erzählt von einem Achtjährigen, der von seinem Vater und anderen Männern sexuell missbraucht wurde. „Dennoch hatte der Junge Sehnsucht nach seinen Eltern, die auch immer wieder kamen. Die Mutter hat sich dann auch in Therapie begeben, der Vater nicht.“ Nach einem Jahr im KID kam der Junge in eine Wohngruppe.

Seit ein paar Wochen wohnt im KID ein Geschwisterpaar – Malte, 10, und Jonas, 4, (alle Kindernamen sind geändert) die von einem Kinderporno-Ring missbraucht wurden. Die beiden suchen immer wieder die Nähe zur Erzieherin. „Ich mag, dass es hier einen Kickertisch gibt und ich hier toben darf. Und dass ich nicht immer auf meinen Bruder aufpassen muss, das machen jetzt die Betreuer“, sagt Malte. Und fügt leise hinzu: „Aber ich vermisse meine Mama.“ Warum er hier ist, will er nicht sagen, doch seine traurigen Augen sprechen Bände. „Malte hat am Anfang das Essen verweigert und ist oft ganz depressiv, er sagt, dass er nicht mehr leben möchte“, sagt Elassal-Wolter.

Wer in dem Schutzhaus arbeitet, muss starke Nerven – und die eigene Wut auf die Täter im Griff haben, die Kindern oftmals Unvorstellbares antun und ihnen damit ihre Kindheit rauben. Kindern wie Moritz, der nun schon zwei Jahre im KID ist – er ist einfach nicht vermittelbar. Sein Vater kommt aus der rechtsradikalen Szene, hat Moritz und seine Mutter regelmäßig verprügelt. „Vermutlich gab es auch sexuelle Übergriffe auf beide“, sagt Elassal-Wolter. Moritz nimmt keine Anordnungen an, ist kaum beschulbar, häufig aggressiv gegen die Betreuer und andere Kinder. „Er hat alles versucht, um hier rauszufliegen, aber wir lassen nicht locker“, sagt die Erzieherin.

Möglich ist das nur, weil der Betreuungsschlüssel in der Einrichtung so hoch ist – mit neun Mitarbeitern gibt es fast eine Eins-zu-Eins-Betreuung. Alle Mitarbeiter haben Zusatzqualifikationen zum Thema Traumabewältigung. Rund 250 Euro kostet ein Betreuungsplatz pro Tag. „Das ist viel Geld, aber es ist gerade genug, um den Kindern zumindest eine Lebensperspektive zu geben“, sagt Stiftungs-Vorstand Johanna Ruoff. Deswegen plant sie jetzt weitere Schutzhäuser – in München, Frankfurt und Zürich.

Der Abendblatt-Verein „Kinder helfen Kindern“ unterstützt die Mattisburg in Hamburg. Von den Spendengeldern können Möbel, Spiele und Material angeschafft, sowie Ferienfreizeiten für die Kinder finanziert werden. Wenn Sie dieses Schutzhaus für traumatisierte Kinder unterstützen möchten spenden Sie bitte unter dem Stichwort: Mattisburg an „Kinder helfen Kindern e.V.“ Haspa, IBAN: DE25200505501280144666 Infos zur Stiftung: www.epfk.de