„Weshalb hast du ihn verprügelt?“, fragte der Schuldirektor Pjotr Karlowitsch Shelnerski den Schüler Friedrich Naumann. Der Enkel eingewanderter Deutscher nahm allen Mut zusammen und antwortete: „Weil er mich einen Faschisten nennt.“ Igor, der Geschlagene, konnte auf Nachfrage nicht mal erklären, was überhaupt ein Faschist sei, und der Direktor in dem sibirischen Dorf war klug: Er erzählte von verbrannten russischen Dörfern, lebendig begrabenen Frauen und Kindern und KZ-Häftlingen. Und er sagte: „Ihr müsst euch versöhnen!“ Und so entschuldigte sich Friedrich bei Igor und Igor bei Friedrich und sie schlossen Frieden.

Friedrich Naumann, der Ende der 1990er-Jahre wieder ins Land seiner Väter – Deutschland – zurückkam, hat dieses Erlebnis in einer Geschichte erzählt, die im Buch „Mein Herz blieb in Russland“ erschienen ist und in dem 33 weitere Texte mit Episoden aus dem Leben von Russlanddeutschen festgehalten sind. Sie sind eine fast vergessene Opfergruppe, die berührend über ihr Schicksal und ihre Sehnsucht berichtet. Dabei fing es vor 250 Jahren eigentlich ganz vielversprechend an: Katharina die Große, die deutschstämmige Zarin von Russland, verfügte, dass Deutsche nach Russland einwandern sollten, um die menschenleeren Gebiete zu besiedeln. Dafür bekamen sie Sonderrechte. Das blieb nicht so. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurde diesen Deutschstämmigen das Leben in Russland erschwert. Die „Russifizierung“ wurde immer schärfer und drängt sich angesichts der Vorgänge auf der Krim heute wieder ins Bewusstsein. Als die deutsche Wehrmacht 1941 in die Sowjetunion einmarschierte, waren Deutschstämmige schutzlos den Zwangsmaßnahmen der stalinistischen Willkür ausgesetzt. Schließlich wurden sie in die unwirtlichsten Gebiete Russlands deportiert: nach Sibirien, Kasachstan und in den Ural. Zwangsarbeit, Hunger, Kälte und Repressalien der Machthaber waren ihr täglich Brot. Sie kämpften ums Überleben.

Rund zwei Millionen Russlanddeutsche und ihre Familienangehörigen sind seit 1956 als Aussiedler zurück nach Deutschland gekommen. Heimisch wurden viele nie. Ihr Herz blieb in Russland.

L. Dyck/H. Mehl (Hrsg.): „Mein Herz blieb in Russland“, Zeitgut-Verlag, 448 Seiten, 12, 90 Euro