Marianne und Hans-Michael Kay ermöglichen todkranken Menschen, noch einmal das zu tun, wonach sie sich am meisten sehnen.

Sie wird die Bilder nicht los. Wie ihr Vater da liegt im Krankenhaus, klein und weiß und zerbrechlich. Das Gesicht von der Krankheit gezeichnet. Ein alter Mann, den der Krebs mürbe gemacht hat. Und der weiß, dass er sterben wird. Er klagt nicht. Die Pfleger haben ihn in ein Sterbezimmer geschoben. Dort sitzt er nun auf der Bettkante. Neben ihm liegen in ihren Betten zwei weitere Menschen im Sterben. Der alte Mann ist noch nicht so weit. Er hätte hier noch gar nicht sein dürfen. Also wartet er. Die Pfleger informieren seine Tochter. Sie bricht ihren Urlaub ab. Am späten Nachmittag betritt sie die Klinik, eilt zu ihrem Vater. Sie bleibt an seiner Seite, den Abend, die Nacht in dem Zimmer mit den anderen Sterbenden. Er hält ihre Hand. Einen Wunsch habe er noch, sagt er. Er wolle so gern noch einmal in eine Rosinenschnecke hineinbeißen. Den süßen Zuckerguss auf der Zunge spüren. Sie weiß, dass er das Gebäck nicht mehr schlucken kann. Sie verspricht ihm, dass sie dennoch zum Bäcker fahren wird. Gleich morgen früh.

Zwölf Jahre sind seit diesem Tag vergangen. Jahre, in denen Marianne Kay oft die letzten Stunden ihres Vaters durchgegangen ist. Jedes Mal läuft ihr ein Schauer über den Rücken, wenn sie an den Abschied zurückdenkt. "Wir haben uns so alleingelassen gefühlt. Kein Pfleger hatte für uns Zeit. Wir hatten schreckliche Angst", sagt die 64-Jährige. "So darf ein Mensch nicht sterben." Immer wieder spricht sie mit ihrem Mann Hans-Michael darüber, wie der letzte Weg gegangen werden sollte. Irgendwann ist beiden klar, dass sie selbst etwas für die Sterbenden tun können.

2008 gründen sie die Infinitas-Kay-Stiftung. Sie machen sich auf die Suche nach Menschen, die sich für ein würdevolles Sterben engagieren. Sie sammeln Spenden für Hospize, führen Gespräche mit 40 Organisationen. Und lernen schließlich Marcus Jahn kennen. Der 46-Jährige ist Geschäftsführer des Hospizes am Israelitischen Krankenhaus. Neun Gäste können dort wohnen. Bis zu ihrem Tod verbringen sie durchschnittlich 23 Tage an diesem Ort. "Es sind Menschen mit nicht mehr heilbaren Krankheiten, die zu uns kommen", sagt Marcus Jahn. Ihnen in der letzten Lebensphase an diesem Ort des Sterbens mehr Leben zu geben sei das Ziel der Einrichtung. Schon beim ersten Treffen mit den Kays war klar, dass man gemeinsam ein Projekt auf die Beine stellen wollte.

Am Ende der Gespräche stand eine Idee, die deutschlandweit einmalig für Erwachsene ist. "Ein letzter Wunsch" heißt das Projekt, das genau das will: Menschen am Ende ihres Lebens noch einmal die Möglichkeit geben, das zu erleben, was sie stets erfüllt hat, eine Sache zu Ende zu bringen, das zu sehen oder zu erledigen, wonach das Herz ruft, bevor es aufhören wird zu schlagen. Manchmal sind es ganz kleine Dinge, nach denen sich die Sterbenden sehnen. Noch einmal die Katze zu streicheln. Noch einmal eine Kugel Eis beim Lieblingsitaliener zu verspeisen. Ein bestimmtes Lied anzuhören. Oder die eigene Lebensgeschichte aufzuzeichnen. Und manchmal sind es größere Wünsche: Noch einmal ein Glas Rotwein mit Blick auf den Sonnenuntergang zu trinken, ans Meer zu fahren oder an den Ort zurückzukehren, an dem der Sterbende einst Glück und Kraft geschöpft hat.

Frau H. hatte einen solchen Wunsch, den Marianne Kay der Hospizbewohnerin am 6. Oktober 2012 erfüllen konnte. Die alte Dame wollte noch einmal nach Hause in ihre Wohnung, zu ihrem Mann. An diesem Morgen war es so weit. Frau H. saß in einem großen Pflegerollstuhl.

Sie hatte sich hübsch gemacht für ihren Mann, trug ein neues Twinset. Ihre Krankheit hatte sie schwer gezeichnet und sie war so schwach, dass sie ihren Kopf kaum halten konnte. "Als ich ihr erzählte, dass wir gleich zu ihrem Mann fahren würden, um ihren letzten Wunsch zu erfüllen, lächelte sie", erinnert sich Marianne Kay. "Das Hospizpersonal händigte mir Schmerzmittel für den Notfall aus." Im Spezialtransporter fuhren sie zu ihrem Haus. Dort wartete ihr Mann mit Tränen in den Augen. Er hatte den Tisch für zwei gedeckt, Herzen lagen auf den Tellern. Das Hochzeitsbild stand in der Mitte. Frau H. wurde im Rollstuhl an ihren Platz geschoben. An die Seite ihres Mannes. Er hielt ihr Sektglas, fütterte sie mit Kuchen. Es war ein inniger Moment für beide. Dann wurde Frau H. zurück ins Hospiz gebracht. Sie war glücklich. Wenig später verstarb sie.

Die Kays wissen, wie wichtig es ist, dass Wünsche erfüllt werden. Weil nur dann tiefe Zufriedenheit eintritt. Und weil der Mensch erst das Leben beruhigt loslassen kann, wenn etwas zu Ende gebracht ist. Sie wissen auch, dass die Finanzmittel und Organisationsstrukturen im Hospiz es nicht zulassen, diese Wünsche zu erfüllen. Also wollen sie es tun. Für das Projekt, das künftig auch Schwerstkranken zu Hause in ambulanter palliativer Pflege zugutekommen soll, werden Ehrenamtliche gesucht, die sich engagieren wollen.

Ihre eigenen Wünsche haben die Kays immer sehr ernst genommen. "Man sollte die Dinge nicht aufschieben, sondern sie tun, solange man dazu in der Lage ist", sagt Marianne Kay. Sonst holt einen dieses Gefühl, etwas ausgelassen zu haben, irgendwann schmerzlich ein. Ein einziges Mal hat Marianne Kay das erfahren müssen. Ihr Vater starb noch in derselben Nacht, nur wenige Stunden nachdem sie zu ihm in die Klinik geeilt war. Sein letzter Wunsch hatte sich nicht mehr erfüllt.

Infos: www.ein-letzter-wunsch.de Tel.: 41 46 77 93