Am 1. Dezember ist Welt-Aids-Tag: Merle Siewert war Mutter eines Jungen und eines Mädchens, als sie sich mit dem HI-Virus infizierte.

Merle Siewert ist eine ganz normale Frau. Eine von 940 000 Frauen in Hamburg. Sie hat lange braune Haare, große Augen und ist schlank. Sie hat Abitur, eine Ausbildung, zwei Kinder, einen Partner. Sie könnte die Frau von nebenan sein. Die Dame im Bus gegenüber. Die Arbeitskollegin. Sie ist ein direkter Mensch. Einer, der anderen beim Erzählen in die Augen schaut. Sie findet, dass die Wahrheit wichtig ist. Sie würde ihr Gesicht zeigen, wenn die Kinder nicht wären. Doch sie möchte nicht, dass ihre Kinder ausgegrenzt werden.

Denn Merle Siewert (Name geändert) ist HIV-positiv. Sie könnte irgendwann an Aids erkranken. Das ist schlimm.

Schlimmer aber noch ist die Lüge. Dieses Sich-jeden-Tag-verstecken-Müssen. Vor den Nachbarn, dem Arbeitgeber, guten Bekannten - und manchmal auch vor Freunden. Ihnen sagen zu müssen, dass alles in Ordnung ist, auch wenn etwas Elementares nicht stimmt. Zu lächeln, auch wenn man heulen könnte. Zu schweigen, obwohl es so vieles zu sagen gäbe.

Weltweit sind 34 Millionen Menschen mit HIV infiziert. Rund 78 000 leben damit in Deutschland - laut dem Robert-Koch-Institut ein neuer Höchststand. In Hamburg sind etwa 6000 HIV-Infizierte und Aidskranke registriert. Bundesweit kommen jährlich etwa 3400 Neuinfektionen dazu. Merle kannte diese Zahlen, als sie sich verliebte. So wie die meisten Deutschen sie kennen. Sie hätte sich ausrechnen können, wie groß die Ansteckungsgefahr ist, als sie vor elf Jahren mit ihrem damaligen Freund schlief. Doch wer rechnet schon, wenn er liebt?

Sie hat auch nie abgerechnet. Auch dann nicht, als sie bei einer Blutspende von der Diagnose erfuhr. Weil sie kein Mensch ist, der verurteilen will. Weil sie dieses "hätte, wäre, wenn" nicht ertragen kann. Die Beziehung war mit einem Schlag vorbei. Das Virus blieb.

Merle Siewert ist heute 34 Jahre alt. Sie ist eine Frau, die alle Vorurteile widerlegt. Sie ist nicht der Typ, der sich auf Partys rumtreibt, der ständig neue Männer hat, sich prostituiert oder Drogen nimmt. Sie ist treu, zuverlässig, ehrlich, geradlinig. Das Mädchen aus gutem Elternhaus. Sie ist ein Familienmensch, liebt das Bodenständige. Wer Merle sieht, denkt nicht an Aids.

Für sie war damals der schlimmste Gedanke, was nun mit ihren Kindern passiert. Als Merle Siewert sich infizierte, hatte sie sich kurz zuvor von ihrem Mann getrennt. Ihre Kinder Katrin und Felix (Namen geändert) waren gerade drei und fünf Jahre alt. Sie waren zu klein, um ihnen die Wahrheit zu sagen. "Ich habe gemerkt, dass die Kinder spüren, dass etwas ist. Ich wollte sie nicht belügen", sagt sie. Immer wieder überlegt sie, wann der richtige Zeitpunkt sein könnte. Verzweifelt wendet sie sich an die Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Hamburg (ajs) am Hellkamp. Es ist die einzige Beratungsstelle in Norddeutschland, die sich um HIV-betroffene Kinder kümmert. "Bei uns ist das Tabuthema Aids kein Tabu", sagt Mitarbeiterin Patricia Barth. "Und dennoch halten viele Eltern die eigene Infektion vor ihren Kindern geheim, um diese nicht zu belasten. Das Thema HIV und Aids wird lange verschwiegen." Mittlerweile wisse man aber, dass Kinder und Jugendliche von einer ernsthaften elterlichen Erkrankung mit all den einhergehenden Begleiterscheinungen nicht abgeschirmt werden können.

Merle Siewert leiht sich ein Buch beim ajs. Es trägt den Titel "Peter weiß mehr" und erzählt die Geschichte eines kleinen Jungen, der HIV positiv ist. Seine "Körperpolizei" funktioniert nicht mehr. Und er muss Medikamente nehmen, damit er nicht stirbt. Über die Geschichte von Peter lernen Felix und Katrin die Diagnose ihrer Mutter kennen. Sie lernen vor allem, dass ein Mensch leben kann, auch wenn sein Blut krank ist.

Wann genau sich aus dieser diffusen Krankheitsbeschreibung bei den Kindern das Wort HIV herauskristallisierte, weiß selbst Katrin nicht mehr. Irgendwann beim Abendbrot hat Merle Siewert das Wort in den Mund genommen. Ihre Tochter Katrin war damals neun. Ein kleines Mädchen, das fortan ein großen Geheimnis hüten musste. "Wir raten ab, dass Kinder davon in der Schule erzählen. Sie werden stigmatisiert, nicht mehr bei anderen eingeladen. Die Vorurteile gegenüber dieser Krankheit sind immer noch sehr groß," sagt ajs-Beraterin Patricia Barth.

Heute ist Katrin 14 Jahre alt. Ein selbstbewusster Teenager, groß und schlank. Sie kennt die Geschichte ihrer Mutter. Weiß, dass diese sich beim Geschlechtsverkehr angesteckt hat, als sie 24 Jahre alt war. Dass sie nicht verhütet hat, weil sie glaubte, den Mann, den sie liebte, zu kennen. Sie weiß, wie verzweifelt ihre Mutter war, weil sie glaubte, nach der Diagnose sterben zu müssen. Und wie erleichtert, als der Arzt sagte: "Ich kriege Sie bis zur Rente."

Katrin hat keine Angst vor HIV. Sagt sie zumindest. Weil sie jeden Tag neu erlebt, dass man mit der Infektion leben kann, wenn man Medikamente nimmt. Sie sieht nicht das, was sein könnte, sondern das, was ist. Und sie macht Pläne. Will mit ihrer Mutter verreisen, nach dem Abitur Jura studieren oder Architektin werden. Sie sagt, sie habe kein Problem damit, dass ihre Mutter das HI-Virus in sich trägt. Ihr Problem seien die anderen. All die Menschen drum herum, die Lehrer, Mitschüler und Freunde, denen sie die Wahrheit verschweigen muss und will.

Und sie weiß, dass Aids keine Schande ist - sondern dass es eine Schande ist, wie die Menschen damit umgehen.