Im Rückblick bezeichnet Marion Gebert die 13 zurückliegenden Jahre als ihre glücklichsten. Sie fanden ein jähes Ende, als ihr Lebensgefährte erkrankte.

Die Frau mit den langen grauen Haaren blickt auf die Mauer im Garten, die ihr Lebensgefährte gebaut hat. 13 Jahren sei das jetzt her, sagt sie. Man merkt der 55-Jährigen an, dass sie lieber über die Vergangenheit als über die Gegenwart spricht. Damals begann ihre Liebesgeschichte mit Hanno. Marion Gebert reichte dem sympathischen Mann, der in ihrem Garten arbeitete, Kaffee über das Balkongeländer. Immer häufiger entwickelten sich Gespräche zwischen ihnen, die meist von der eloquenten, zehn Jahre älteren Frau ausgingen. Eines Tages lag ein Zettel auf ihrem Balkontisch: "Bin in der Telemannstraße, kannst Du uns einen Kaffee vorbeibringen?" - "Da wusste ich, dass auch er an mir interessiert war."

Ein Jahr, nachdem Hanno bei ihr eingezogen war, kam Lars auf die Welt. Das Baby entwickelte sich gut. Marion war erleichtert. Schließlich war sie mit 44 Jahren keine junge Mutter mehr. Die humorvolle, lebhafte Frau und der sensible, sanfte Mann ergänzten sich gut. Sie unternahmen lange Spaziergänge und machten viele Radtouren.

Im Rückblick bezeichnet Marion die folgenden Jahre als ihre glücklichsten.

Sie fanden ein jähes Ende, als Hanno erkrankte. Drei Wochen verbrachte er im vergangenen Jahr auf der neurologischen Station der Universitätsklinik. Die Ärzte standen vor einem Rätsel. Mit seinen 45 Jahren war der Patient statistisch gesehen viel zu jung, um an einer Demenz zu leiden. Seit der Diagnose "Alzheimer" weiß Marion, wie bedroht damit ihr spätes Familienglück ist. Der ehemaligen Bankangestellten ist bewusst, dass es allein von ihrer Stärke abhängt, ob und wie lange sich dieses Glück konservieren lässt - für ihren gemeinsamen zwölfjährigen Sohn, für Hanno und - für sich. Dass es irgendwann unwiederbringlich zerbrechen wird, weiß sie spätestens seit dem Moment, als der Neurologe ihr, als Hanno nicht dabei war, sagte: "Er ist ein sehr junger Demenzkranker, daher müssen wir davon ausgehen, dass die Krankheit besonders schnell voranschreitet."

Die Bedeutung dieser Worte muss sie ignorieren. Sonst, das weiß sie, fällt ihr mühsam aufgebautes Glücksgebäude in sich zusammen. "Ich denke nur noch von einem Tag zum anderen."

Hanno sitzt auf dem Balkon. Sein Rücken ist leicht nach vorn gebeugt. Er hält den Blick gesenkt auf die Zeitung mit dem Kreuzworträtsel vor sich auf dem Tisch, die ihm Marion hingelegt hat. Sie spricht mit ihm, wie Mütter mit ihren Kindern sprechen. Als sie vom Gedächtnistraining berichtet, zu dem er heute Nachmittag muss, blickt er nicht auf.

Wenn Hanno die Wohnung verlässt und die viel befahrene Einkaufsstraße überquert, steht Marion oft am Fenster. Noch kann er alleine das Haus verlassen und gewohnte Wege gehen, aber ihre Unsicherheit über seine Unsicherheit wächst. Doch die lässt sie sich kaum anmerken, vor allem nicht, wenn Lars zu Hause ist. Der Zwölfjährige stünde am Beginn seiner Pubertät und benötige jetzt die prägende Vaterfigur, sagt Marion. Und er brauche möglichst viele Erinnerungen an einen starken, selbstständigen Vater. Erinnerungen für die Zeit danach, wenn Hanno für seinen Sohn nicht mehr da sein kann. Das Verhältnis von Vater und Sohn hat seine alte Unbeschwertheit verloren. Lars erfüllt es mit Ungeduld, wenn sein Vater lange nach den Wörtern sucht, bis er antwortet. Es ist ihm peinlich, dass die anderen Freunde normale, berufstätige Väter haben, während sein Vater nur zu Hause herumsitzt und Kreuzworträtsel löst. Immer häufiger kommt es zu Streitereien zwischen Vater und Sohn. Der ehemals so friedliche und ausgeglichene Mann reagiert plötzlich lautstark, wenn sich der Sohn seinem Willen widersetzt. Lars reagiert aggressiv, als wolle er sagen: "Ich bin jetzt der Herr im Haus."

Verzweiflung oder Traurigkeit über den Verlust seiner Orientierung ist Hanno kaum noch anzumerken. Nur einmal, kurz nach der Diagnose, brach es aus ihm heraus: "Warum gerade ich?"

Entnommen aus: "Wo bist du? Demenz - Abschied zu Lebzeiten", Julia Engelbrecht-Schnür/Britta Nagel, Hoffmann und Campe, ISBN 978-3-455-50107-0, 25 Euro