Wie wichtig ist dem französischen Fußballer die Triebabfuhr, fragt Mathias Énard. Seine Kollegin aus Nigeria weiß: Für uns zählt jedes Tor – schon als Chance, positive Geschichten zu erzählen.

Mathias Énard über die Siegprämien fürs französische Team

Dies wird das Match der Frauen sein. Man sieht sie nicht auf dem Fußballfeld, aber man spricht im französischen Fernsehen nur von ihnen. Sie sind eingetroffen. Endlich. Stellen Sie sich die Achäer vor, am Ufer des wohlbehüteten Troja, wie sie endlich ihre Ehefrauen in Empfang nehmen. Ein Geschenk der Götter. Der französische Fußball-Verband (also Zeus, Hera, Apollo und Co.) hat Frauen geschickt. Nicht irgendwelche: Die Frauen der Spieler der Nationalmannschaft.

Man hätte sich vorstellen können, dass die göttliche Instanz auf lokale Ressourcen zurückgreift und man auf Brasilianerinnen trifft. Aber nein. Die Spieler wollen IHRE Frauen. Jeder seine eigene. Sie wurden für teuer Geld am Vorabend des Spiels gegen Ecuador, mit dem sich Frankreich für das Achtelfinale qualifiziert hat, geschickt. Sie treffen also ein, aber sie schlagen Krach, weil sie ein Hotel an der Copacabana oder in Ipanema wollen und nicht eins an der Autobahn – nahe am Stadion, das schon, aber die Stadien werden an Autobahnen gebaut, nicht am Strand.

Die Frauen der französischen Spieler ziehen den Strand dem Fußball und der Autobahn vor. Es sind junge Frauen, sie sind zwischen 20 und 30. Wie ihre Männer. Die Frauen sind da, man hat sie in einem prachtvollen Hotel am Meer untergebracht. Aber die französischen Spieler dürfen sie nicht sehen, noch weniger berühren. Wie damals bei Achill und Agamemnon an den feindlichen Stränden Trojas sind die Frauen ihre Belohnung. „Ihr werdet eure Frauen berühren, wenn ihr euch fürs Achtelfinale qualifiziert habt“, sagt der Mannschaftstrainer, also nach dem Spiel gegen Ecuador. Eine Nullnummer.

In jeder Hinsicht. Weil die französischen Spieler – die Lloris, Benzema, Giroud und so weiter – ihre Frauen erwarten. Sie wissen, dass auch sie dem Trainer Angst einflößen können: Achtung, wir wollen unsere Frauen. Unser Spiel wird darum angespannt, ängstlich. Wir schießen in die Luft. Wir zielen schlecht. Wir haben den Kopf woanders. Null zu null: Die Ecuadorianer wollen nach Hause zu ihren Frauen und die Franzosen ins Hotel am Atlantik, wo ja ihre Frauen auf sie warten.

Jetzt stellt sich fürs Achtelfinale die Frage: Wie wichtig ist dem französischen Fußballer seine Triebabfuhr? Wichtiger als dem Nigerianer, der ja auch auf dem Schlauch steht? Wird die Anstrengung eines Zeus obsiegen, oder werden unsere Helden, diese französischen Achäer, extrem entspannt nach einer Woche Bacchanal, weichlich in die Knie gehen vor der Askese der Spartaner?

Adaobi Tricia Nwaubani über die Hoffnungen Nigerias

Am Mittwoch herrschte auf den Straßen Abujas ungewöhnlich wenig Verkehr. Es war eine flüssige, reibungslose Fahrt von meinem Büro bis nach Hause. Keine Verzögerungen, bis auf die Ampeln. Die meisten Leute, die die Straßen sonst mit ihren Vehikeln verstopfen, saßen drinnen – und sahen das ungeduldig erwartete Spiel, das darüber entscheiden würde, ob Nigeria im Turnier bleiben oder sich der Liga afrikanischer Länder zugesellen würde, die vorzeitig aus dem Wettbewerb geworfen wurden.

Möglicherweise gab es einen weiteren Grund für die leeren Straßen. Kaum eine Stunde, bevor Nigerias Superadler in Brasilien gegen Argentinien antreten sollten, war in einem beliebten Einkaufszentrum von Abuja eine Bombe explodiert. Sie tötete 21 Menschen und verletzte Dutzende mehr. Vielleicht wollten Abujas Bürger sich nicht auf Straßen herumtreiben, auf denen die Spuren der Zerstörung noch frisch waren. Der Anschlag war nur die jüngste einer ganzen Serie von Schreckensmeldungen, die Nigeria in den zurückliegenden Monaten heimgesucht haben – meist war die Terrorgruppe Boko Haram verantwortlich.

Vierzig Studenten in ihrem Wohnheim ermordet, ganze Dörfer ausgelöscht, zweihundert Mädchen aus ihrer Schule entführt – jede neue Horrornachricht bedeutete einen Schock für die Welt und tiefe Trauer für die Nigerianer. Jetzt schaut das Land auf die Nationalmannschaft, sie soll uns endlich Grund geben, wieder ausgelassen und fröhlich zu sein. Nur ist eine WM eben keiner dieser Wettbewerbe, bei denen sich Juroren von der Geschichte eines bemitleidenswerten Teilnehmers beeinflussen lassen. Auch ein berührtes Publikum kann hier nicht mit Klicks oder Kurznachrichten über Spielergebnisse entscheiden.

Nigerias Superadler müssen sich die einmalige Chance, ihrem Land den bitter nötigen Trost zu spenden, auf dem Platz erkämpfen. Zum Glück gibt es noch Hoffnung. Trotz einer 2:3-Niederlage gegen Argentinien haben wir das Achtelfinale erreicht, dank Bosniens Sieg über Iran. Wenn die Superadler das nächste Mal auf dem Platz sind, ist jede ihrer Bewegungen von Bedeutung. An jedem Spielzug hängt die Stimmungslage der Nation. Jedes Dribbling, jeder Pass hält die Möglichkeit bereit, Sorge und Leid abzuschütteln. Und jedes Tor zählt als Chance, eine ganz andere Geschichte über dieses Land zu erzählen, eine Geschichte ohne Schrecken und ohne Gräuel.