Schulsenatorin Christa Goetsch (GAL) und Reformgegner Walter Scheuerl trafen in der Redaktion des Hamburger Abendblatts aufeinander.

Hamburg. Hamburger Abendblatt:

Frau Goetsch, seit zwei Jahren sitzt Ihnen Walter Scheuerl im Nacken. Was werfen Sie Ihrem Widersacher am meisten vor?

Christa Goetsch:

Bei einer großen Reform wird es immer Gegner geben. Ich bin aber nicht erfreut, wenn Dinge behauptet werden, die nicht stimmen. Viele Monate lang wurde behauptet, die Klassenverbände würden im Zuge der Reform abgeschafft, was nicht stimmt. Jetzt wird behauptet, das Elternwahlrecht sei ein Pseudowahlrecht, was auch nicht wahr ist.

Herr Scheuerl, was sagen Sie zu diesen schweren Vorwürfen?

Walter Scheuerl:

Wir haben nur darauf hingewiesen, dass der Begriff Klassenverband im neuen Schulgesetz nicht mehr vorkommt. Formal gehört ein Kind noch einer Klasse an, aber das Unterrichtskonzept ist ein anderes. Ein Stichwort dazu lautet "jahrgangsübergreifender Unterricht".

Goetsch:

Das stimmt nicht. Von Anfang an war klar, dass es weiterhin Klassen und Klassenlehrer gibt. Die Kinder brauchen doch Bezugspersonen. Den Schulen ist zwar freigestellt, ob sie jahrgangsübergreifend arbeiten. Aber auch dann gibt es einen Klassenlehrer. So steht es auch im Gesetz.

Ist das, was wir jetzt in Hamburg erleben, wirklich ein fairer Streit unter Demokraten um die bessere Idee? Oder wird mit zu harten Bandagen zu Werke gegangen?

Goetsch:

Wir als Behörde haben einen Auftrag, über Inhalte der Reform zu informieren. Der Meinungsstreit wird ja inzwischen eher unter den beiden Initiativen ausgetragen - den Primarschulgegnern und den Schulverbesserern, die für die Reform sind.

Scheuerl:

Wir kritisieren an der Senatskampagne, dass die Primarschule als einziger Gegenstand des Volksentscheids versteckt wird. Geworben wird mit kleineren Klassen oder der Abschaffung des Büchergeldes - beides kommt aber unabhängig davon, wie der Volksentscheid ausgeht.

Herr Scheuerl, was bewundern Sie an Frau Goetsch?

Scheuerl (überlegt):

Ich bewundere an der Senatorin, dass Sie für das Ziel, das sie hat, jeden Rückschlag in Kauf nimmt und weiterkämpft. Da sind wir uns persönlich vielleicht sogar ähnlich.

Frau Goetsch, was bewundern Sie an Ihrem Gegenüber?

Goetsch:

Seine Initiative hat es mit sehr viel Energie und einer guten Agentur geschafft, sehr viele Menschen zu einer Unterschrift gegen die Reform zu bewegen. Das muss man als Leistung anerkennen.

Was ist an der Primarschule so schlimm? Das längere gemeinsame Lernen ist doch europäischer Standard.

Scheuerl:

Die Primarschule wird deshalb zum Nachteil fast aller Schüler führen, weil das Lernangebot und die Lernförderung in den jetzigen fünften und sechsten Klassen aller Schulformen weitgehend wegfallen wird. Die zweite Fremdsprache zum Beispiel wird nur angetickt, aber nicht wirklich unterrichtet. Anders als immer behauptet wird, wird soziale Gerechtigkeit gerade nicht gefördert. Kinder aus sozial benachteiligten Milieus werden länger unter sich bleiben. Eltern mit Migrationshintergrund, etwa aus der Türkei, wollen für ihre begabten Kinder die Möglichkeit, sie ab der fünften Klasse aufs Gymnasium zu schicken. Das hören wir an unseren Ständen häufig.

Goetsch:

In der Primarschule wird auf den gleichen Niveaus unterrichtet wie heute in den weiterführenden Schulen - nur gemeinsam in einer Klasse und nicht getrennt. Und ich frage mich, warum Sie der Ansicht sind, dass gerade die türkischen Eltern gegen die Primarschule sind. Alle Migrantenorganisationen haben sich für das längere gemeinsame Lernen ausgesprochen. Die türkische Gemeinde tritt dezidiert für die Primarschule ein.

Scheuerl:

Wir sprechen mit den Menschen und nicht mit Vorständen kleiner Vereine, die sich irgendwie politisch positionieren.

Frau Goetsch, warum haben 184 500 Hamburger beim Volksbegehren gegen Ihre Reform gestimmt?

Goetsch:

Wir zusammen und ich persönlich haben das Thema des Elternwahlrechts unterschätzt. Das ist ein wichtiger Punkt für viele Eltern, besonders für Eltern nicht deutscher Muttersprache. Viele hatten die Sorge, dass ihre Kinder benachteiligt werden. Was ja auch im jetzigen System de facto der Fall ist. Mit dem Elternwahlrecht ist der Großteil der Stimmen gegen die Primarschule gesammelt worden. Und das haben wir jetzt ganz klar korrigiert: Das Elternwahlrecht bleibt ohne Wenn und Aber.

Bedeutet das einen Rückschlag für Ihre Kampagne?

Scheuerl:

Das Elternwahlrecht nach Klasse 6 ist erneut ein parteipolitischer Kompromiss, der von uns, aber auch von der Elternkammer und den Leitern der Stadtteilschulen heftig kritisiert wird. Durch das Sortieren über die Zeugnisse am Ende von Klasse 7 auf dem Gymnasium wird die Stadtteilschule zur Restschule degradiert. Insofern ist das ein Pseudowahlrecht.

Die Eltern können am Ende von Klasse 6 genauso frei wählen wie jetzt am Ende von Klasse 4. Worin besteht der Unterschied?

Scheuerl:

Kinder nehmen in den Klassen 5 und 6 ganz anders am Unterricht teil als in Klasse 7 im Alter von zwölf, 13 Jahren. Die siebte Klasse ist für viele Kinder schon der Beginn der Pubertät. Das ist eine Zeit, in der sie sich für zwei, drei Jahre überhaupt nicht mehr für Schule interessieren und gegen Autoritäten, auch die Eltern angehen.

Goetsch:

Wenn das stimmt, müssten wir in allen europäischen Ländern eine pubertäre Katastrophe haben. Dort sind ja sechs Jahre gemeinsames Lernen Standard. Das Argument zieht nicht.

Scheuerl:

Gerade der europäische Vergleich zeigt, dass die Länder, die sechs oder sieben Jahre gemeinsames Lernen praktizieren, früher anfangen wie zum Beispiel Frankreich. Dort fällt die Entscheidung für die weiterführende Schule trotz sechs Jahren Grundschule vor der Pubertät. Wir müssen auch in Hamburg früher anfangen und in den Bereich Kitas und Vorschulen investieren.

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Also Primarschule ja, aber nur, wenn die Kinder im Alter von vier Jahren eingeschult werden?

Scheuerl:

Also fünf Jahre Grundschule und ein Start mit vier Jahren - das sind Modelle, über die man sprechen kann. Darüber wurde aber nie gesprochen.

Warum ist dieser Punkt denn nicht in den Verhandlungen zwischen Initiative und Senat diskutiert worden? Gegen eine frühere Einschulung haben Sie doch auch nichts, Frau Goetsch?

Goetsch:

Das Thema frühkindliche Bildung diskutieren wir schon lange. Aber wir sollten jetzt nicht ablenken. Es geht bei der Primarschule nicht nur um eine Verlängerung der Grundschule, sondern um eine Qualitätssteigerung des Unterrichts. Die Fachlehrer der weiterführenden Schulen geben den Unterricht zum Beispiel in der zweiten Fremdsprache. Die schnellen Lerner werden nicht gebremst, und die Schwächeren werden gefördert. Die Primarschule ist ein starkes Fundament.

Scheuerl:

Wir befürchten, dass sich die Primarschulen gerade auseinanderentwickeln, weil sich die Schulen unterschiedliche Profile geben. Das muss dann in den siebten Klassen mühsam wieder kompatibel gemacht werden.

Herr Scheuerl, was bieten Sie den Menschen eigentlich anderes als das Festhalten am Bestehenden? Wollen Sie die vierjährige Grundschule als Erfolgsmodell verkaufen?

Scheuerl:

Wir wollen das als Erfolgsmodell verkaufen, was die Enquetekommission der Bürgerschaft vorgeschlagen hat: vier Jahre Grundschule, dann Elternwahlrecht und die beiden Säulen Stadtteilschule bis Klasse 13 und Gymnasium bis Klasse 12. Übrigens: Allen, die für die Primarschule sind, muss gesagt werden, dass auf dem Gymnasium von Klasse 7 an das an Wochenstunden nachgeholt werden muss, was in der Primarschule weniger an Unterricht erteilt wird.

Goetsch:

Das stimmt nicht. Die Kinder lernen nicht weniger in der Primarschule, sie lernen nur gemeinsam. Das Niveau ist durch die bundesweiten Standards festgesetzt. Das gilt für die zweite Fremdsprache selbstverständlich auch. Ein Wechsel von Hamburg in ein anderes Bundesland wird jederzeit möglich sein. Und es wäre ganz schrecklich, wenn wir den Gymnasiasten noch mehr Wochenstunden zumuten würden, wo wir schon jetzt die Verdichtung durch die Zeit bis zum Abitur haben.

Noch einmal nachgefragt: In den Klassen 5 und 6 der Primarschule gibt es nicht eine Stunde weniger Unterricht als jetzt in den Klassen 5 und 6 des Gymnasiums?

Goetsch:

Ja, so ist es, die Regelstundentafel ist gleich.

Ihre Reform hat zwei zentrale Handicaps. Erstens: Es gibt keinen Beweis für die Überlegenheit der Primarschule. Zweitens: An den Schulen, auch bei Eltern, herrscht große Reformmüdigkeit. Was sagen Sie dazu?

Goetsch:

Sicherlich sind die Eltern der Gymnasiasten noch sehr stark mit der Schulzeitverkürzung befasst. Unsere Reform betrifft ja aber die Kinder, die neu ins System kommen. Wir wollen das Schulsystem weiterentwickeln, das in Hamburg nicht leistungsstark und nicht gerecht ist.

Herr Scheuerl, Ihr zentrales Handicap ist, dass Sie vor allem die Gymnasiallobby im Blick haben. Mit dem Gymnasium allein lösen wir aber nicht die Probleme des Schulsystems.

Scheuerl:

Das ist völlig richtig. Es mag auch sein, dass wir zu Beginn unserer Aktivitäten vor allem die Gymnasien im Blick hatten. Inzwischen ist das aber anders. Heute sagen wir auch, dass die leistungsschwächeren Schüler früh gefördert werden müssen. Wer kein oder kaum Deutsch spricht, muss vor Eintritt in die Grundschule gefördert werden. Die Gymnasien zu erhalten ist nicht unser Hauptziel, aber es ist ein wesentliches.

Goetsch:

Die Gymnasien bleiben ja erhalten, Herr Scheuerl. Im Übrigen weise ich darauf hin, dass es in Zukunft zwei Wege zum Abitur gibt: auf der Stadtteilschule in 13 Jahren und auf dem Gymnasium in zwölf Jahren.

Wie oft haben Sie in den letzten Wochen bedauert, sich bei den Verhandlungen über einen Kompromiss nicht geeinigt zu haben?

Scheuerl:

Für uns war klar, dass wir keinen faulen Kompromiss schließen wollten, wie das in den schwarz-grünen Koalitionsverhandlungen der Fall war. Anderes als ein fauler Kompromiss war aber nicht möglich. Da wir einen klaren Auftrag aus dem Volksbegehren hatten, bedauern wir insofern nichts.

Goetsch:

Wir haben sehr viel Entgegenkommen gezeigt. Trotzdem ist es zu keiner Einigung gekommen. Das ist bedauerlich. Ich freue mich aber andererseits darüber, dass wir mit allen Fraktionen der Bürgerschaft eine Einigung gefunden haben, die den Eltern Verlässlichkeit gibt. Solch ein Schulfrieden ist für die Eltern Gold wert. Den sollte man nicht gefährden.

Herr Scheuerl, was wünschen Sie Frau Goetsch?

Scheuerl:

Ich wünsche Ihnen, Frau Goetsch, Glück und Gesundheit im gesamten familiären Umfeld und eine weitere gute berufliche Zukunft. Nur beim Volksentscheid wünsche ich uns und allen Hamburgern, dass unsere Volksinitiative gewinnt.

Goetsch:

Mir kommt das fast vor wie Neujahr mit all den guten Wünschen. Die Schulreform ist sehr wichtig für Hamburg. Insofern geht es da nicht um persönliche Wünsche.

Sie könnten Herrn Scheuerl doch wünschen, Einsicht in die Sinnhaftigkeit ihrer Reform zu gewinnen.

Goetsch (lacht):

Also die Antwort verkneife ich mir jetzt.

Frau Goetsch, treten Sie zurück, falls das Volk die Primarschulreform ablehnt?

Goetsch:

Die Schulreform ist so wichtig für Hamburg, dass es dabei nicht um mich geht.

Verstehen wir das richtig? Auch die Schulreform ohne die Primarschule bliebe eine für Sie wichtige Aufgabe?

Goetsch:

Das stimmt. Es geht nicht nur isoliert um die Primarschule, sondern um eine sich aufbauende Reform. Was die Frage nach meiner Zukunft angeht: Ich denke, Sie fragen ja auch nicht die deutsche Nationalmannschaft, was sie macht, wenn sie das WM-Finale nicht gewinnt.

Doch, die Frage, ob der Trainer dann bleiben kann, wird gestellt. Herr Scheuerl, was machen Sie, wenn Sie verlieren?

Scheuerl:

Ich werde mich weiter um meine Familie und die Schule kümmern, an der ich Elternratsvorsitzender bin. Sicherlich werde ich auch weiter, aber dann als Privatmann, die Umsetzung der Schulreform verfolgen.