Die Gelehrtenschule des Johanneums ist ein altsprachlich-humanistisches Gymnasium, das um sein klares Profil fürchtet.

Hamburg. An Asterix, diesen unbeugsamen kleinen Helden, der es mit den Großen aufnimmt, denkt Dr. Uwe Reimer dieser Tage oft. Gerade erscheine ihm seine Schule nämlich auch wie "ein kleines gallisches Dorf", wie die Heimat des kauzigen Comic-Kriegers. Und irgendwie ist der imposante Schumacher-Bau an der Maria-Louisen-Straße vielleicht tatsächlich so etwas wie eine Rotklinker-Bastion des Widerstands - gegen Kräfte, die "die Bildungsvielfalt bedrohen", wie hier an der Gelehrtenschule des Johanneums die meisten Schüler, Lehrer und Eltern befürchten.

Natürlich kämpft das altsprachlich-humanistische Gymnasium, das 1529 gegründet wurde, gegen die geplante Einführung der sechsjährigen Primarschule und nicht wie Asterix gegen die Römer. "Das sind wir doch selbst", sagt Schulleiter Reimer lächelnd und weist in den Klassenraum der 5a. 30 Schüler übersetzen dort mit Lehrerin Ines Domeyer, Fachleiterin für Latein, den Kummer, den die frisch versklavte Flavia ihrer Vertrauten Galla klagt. Die Finger von Zoe, Lennart, Helena und ihren Klassenkameraden schnellen in die Höhe, jeder der Fünftklässler will zeigen, dass er die Vokabeln gelernt und den Ablativ erkannt hat. Lebendig geht es zu - ausgerechnet beim Erlernen einer Sprache, die oft als tot bezeichnet wird.

Dabei zeigen die Zahlen eine andere Entwicklung: Belegten 1999 noch 305 Hamburger Schüler das Fach Latein ab der 5. Klasse, waren es im vergangenen Jahr schon rund 500 Schüler. "Die Kinder begeistern sich beispielsweise für die Geschichten aus der Götterwelt, alte Sprachen sind wieder sehr beliebt", sagt Ines Domeyer. Außerdem, vermutet Schulleiter Reimer, sehnen sich die Eltern nach einem klar definierten Schulprofil. Und am Johanneum ist das eben altsprachlich, mit Latein ab Klasse 5 und Altgriechisch ab Klasse 8.

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Wie sich Flavia, die zur Sklavin verdammte einstige Herrin, jetzt wohl fühle, fragt Ines Domeyer ihre Schüler. "Wütend", sagt der blonde Junge aus der letzten Reihe. "Niedergeschlagen", sagt das Mädchen mit dem dunklen Zopf. "Enttäuscht", "traurig" - die Wortmeldungen reißen nicht ab. "Aber sie hat auch noch Hoffnung", ergänzt eine Schülerin. Diese Gefühlsumschreibungen entsprechen in etwa den Emotionen, die Schulleiter Dr. Uwe Reimer wenige Wochen vor dem Volksentscheid verspürt. Mal sei er kämpferisch, dann gelassen. Mal niedergeschlagen, dann hoffnungsfroh. Meist beantwortet er die Frage, wie er sich fühle, so: "Wie ein gesunder Patient vor einer Amputation."

Abgenommen würden dem Winterhuder Gymnasium, das derzeit etwa 720 Schüler besuchen, nach der Schulreform die Jahrgänge 5 und 6. "Damit fallen die frühen Klassen weg, in denen, mit Latein als fächerübergreifend eingebetteter Basissprache, die Grundlagen für einen altsprachlich-humanistischen Bildungskosmos gelegt werden", sagt Schulleiter Reimer. Kurz: Das Profil das Johanneums werde systematisch verwässert, fürchtet er.

Doch an den Primarschulen soll künftig auch Latein unterrichtet werden. Aber, meint Reimer, längst nicht jede Schule werde in der Lage sein, das Fach auch wirklich anzubieten. "Falls sich nur wenige Schüler dafür interessieren, kommt der Kurs nicht zustande", sagt Reimer, während er in seinem kaminrot tapezierten Arbeitszimmer sitzt, dessen Wände große Porträt-Gemälde früherer Direktoren zieren. "Schon jetzt lässt sich vorhersehen, dass Hamburgs Norden künftig ein weißer Fleck auf der Latein-Landkarte sein wird", sagt Reimer.

Das bedeute folglich auch, dass das Johanneum als weiterführende Schule künftig nur noch für Kinder aus einigen wenigen Primarschulen infrage kommen könnte. Derzeit setzt sich die Jahrgangsstufe 5 aus Schülern aus 28 verschiedenen Grundschulen zusammen. "Wir haben uns nämlich schon immer als Gymnasium verstanden, das offen ist für alle Schüler", sagt Reimer und seine Stimme wird noch ein bisschen fester. "Umso mehr ärgert es uns, wenn man das Johanneum in eine exklusiv-elitäre Ecke drängt. Dabei treten wir doch gerade dafür ein, dass auch weiterhin Kinder aus jeder Grundschule zu uns kommen können."

Im kleinen Lehrer-Café, wo sich die insgesamt 52 Pädagogen in den kurzen Pausen zwischen den Unterrichtsstunden bei einer Tasse Kaffee austauschen, ist die Stimmung gut. Gegen die Schulreform im Allgemeinen, gegen kleinere Klassen, mehr Lehrerstellen, die Abschaffung des Büchergeldes und die Einführung der Stadtteilschulen habe hier niemand etwas, sagt ein Lehrer. Nur gegen die Primarschule. "Weil sie uns die beiden wertvollsten Jahrgänge nimmt", sagt Lateinlehrerin Dorothea Brünger. Künftig würden dann Kinder, deren Latein-Leistungsstand sich auf unterschiedlichem Niveau bewege, ans Johanneum wechseln. "Das 7. Schuljahr, in dem viele Schüler richtig in die Pubertät kommen, wird größtenteils dafür draufgehen, die Schüler auf einen gemeinsamen Wissensstand zu bringen", ergänzt Kollegin Anna Schünemann.

An den Primarschulen sollen in Klasse 5 vier Wochenstunden Latein auf dem Plan stehen, am Johanneum sind es derzeit fünf. Überhaupt sehe der Rahmenplan für die Primarschule bei Wortschatz und Grammatik niedrigere Anforderungen vor, als sie an humanistischen Gymnasien bisher bis zum Ende der Klasse 6 erfüllt werden müssen. "Das Niveau sinkt", sagen die beiden jungen Lehrerinnen. "Zu einer Lektüre von Tacitus oder Vergil werden die Schüler also erst viel später vordringen." Jenseits aller Ratio gebe es auch noch ein Argument, sagt Dorothea Brünger, das von Herzen komme: "Wir wollen unsere Fünft- und Sechstklässler behalten."

Und noch etwas liegt den Lehrern auf dem Herzen. Die gemeinsamen Kaffeepausen, der nette Plausch, der fachliche Austausch, das alles dürfte weniger werden, wenn nach der Reform viele Kollegen zum Unterricht an die Primarschulen pendeln müssen. "Da fahre ich dann wohl hin, erteile eine Doppelstunde Latein und hetze zurück ans Johanneum", sagt Ines Domeyer. "An der Primarschule ist Latein ein Fach unter vielen - anders als hier." Hier, wo der Chor auch mal ein lateinisches Lied singt und im Religionsunterricht Luthers Bibelübersetzung aus der altgriechischen in die deutsche Sprache Thema ist.

Eine Bibel aus dem Jahr 1491 ist übrigens das älteste Werk in der knapp 60 000 Bücher umfassenden Bibliothek der Schule, dem "Herzstück", wie Schulleiter Reimer stolz sagt. 20 Computer-Arbeitsplätze gibt es und einen Raum, in dem die Schüler in Kleingruppen diskutieren. "Individualisiertes Lernen, dieses vermeintliche Zauberwort aus dem Schulreform-Vokabular, wird hier schon lange praktiziert."

Das Lernklima an ihrer Schule sei super, sagen die Schüler. "Ich möchte kein einziges Jahr, das ich hier verbracht habe, missen", sagt Schulsprecher Georg Langwieler aus der 11. Klasse. Das Gefühl der Gemeinschaft sei einmalig. Vor allem frage man sich doch ernsthaft, ob es "sozial verträglicher" sei, dass Eltern jetzt schon vor der Einschulung überlegen müssten, an welcher Primarschule sie ihr Kind anmelden, sagt Schulsprecherin Alexa Willig, 17. "Wenn es Latein lernen soll, kommen nur bestimmte Schulen infrage. Selektiert wird dann also schon vor der 1. Klasse." Von den Millionen, die für Baukosten an den künftigen Primarschulen veranschlagt seien, ganz zu schweigen, sagt Henry Böge, 17. "Das Geld könnte doch sinnvoller in die Ausstattung der bestehenden Schulen gesteckt werden." Seine beiden Kollegen nicken, dann machen sich die drei Elftklässler auf den Weg in die moderne, hell gestaltete Mensa.

Insgesamt mehr als 100 Mütter und Väter engagieren sich ehrenamtlich am Johanneum. Einige von ihnen geben in dieser Pause belegte Brote aus, verkaufen gesunde Snacks. "Die Eltern sind eng mit der Schule verbunden", sagt Elternratsvorsitzende Corinne Geppert, die eine Tochter in der 6. Klasse und einen Sohn in der 12. Klasse hat. Er gehöre zum ersten G8-Jahrgang, jenen Schülern, die das Abitur nach der 12. Klasse ablegen. "Die Einführung dieses Turbo-Abiturs war schon eine überhastete und zu wenig durchgeplante Aktion. Und jetzt kommt mit der Primarschule der nächste Schnellschuss", sagt Geppert, die sich seit zwölf Jahren in der Elternschaft engagiert und in den vergangenen Wochen zahlreiche Informationsveranstaltungen besucht hat.

Geradezu paradox sei auch, dass sowohl Latinum wie auch Graecum künftig in Hamburg ausschließlich über eine Prüfung vergeben werden sollen, während in allen anderen Bundesländern nach wie vor allein die erfolgreiche Teilnahme am Unterricht zu den Abschlüssen führt. "Wie passt dieser Plan dazu, dass doch angeblich der Leistungsdruck abgebaut werden soll?", fragt Geppert. "Dann muss man auch eine faire Chance haben, das für die Prüfung erforderliche Niveau zu erreichen."

Die Schülerschaft regt noch etwas ganz anderes auf. "Ich finde es dermaßen ungerecht, dass wir von den Befürwortern als Bonzen-Schule hingestellt werden", sagt Georg Langwieler. "In diese Schule gehen ganz normale Kinder und Jugendliche." Als Provokation empfänden es hier auch viele, dass die Befürworter der Reform ausgerechnet vor dem Portal des Johanneums so viele Plakate mit Aufrufen zur Schülerdemonstration aufgehängt hätten.

"Na ja", sagt Elternvertreterin Geppert. "Diese Schule ist 481 Jahre alt, sie hat 120 Legislaturperioden überstanden - und diese erfordert eben besonders viel Kraft." Und irgendwie klingt dieser Satz nach einem "kleinem gallischen Dorf", das den Angreifern trotzt.

Lesen Sie morgen: Aufbruch in Barmbek: Die Schule Fraenkelstraße hat sich schon mit zwei anderen Schulen zur "Stadtteilschule Barmbek" zusammengetan - obwohl es diese Schulform offiziell erst ab 1. August geben soll.

Die Folgen im Überblick 1. Vorspiel; 2. Gute Schule; schlechte Schule; 3. So lernt Europa; 4. Was wäre, wenn? Zwei Szenarien; 5. Wo streiten sie denn? 6. VOR ORT: DAS JOHANNEUM; 7. Vor Ort: Stadtteilschule Barmbek; 8. Streit der Experten; 9. Das Kreuz mit dem Kreuz; 10. Gipfeltreffen Goetsch - Scheuerl