Eltern befürchten Benachteiligung ihrer behinderten Kinder, weil Schüler mit Förderbedarf nun auch Regelschulen besuchen dürfen.

Hamburg. Lisa ist blind. Ob sie versteht, was Sonderschulpädagogin Nicole Hillig mit ihr bespricht, lässt sich nicht definitiv sagen. Das mehrfach schwerbehinderte Mädchen hebt im Unterricht häufig den Kopf und lächelt, wenn sein Name fällt. Lisa wird von einer speziell für sie angefertigten Stehhilfe aufrecht gehalten. Manchmal gelingt es der Zwölfjährigen, die rechte Hand auf ihrem Tischchen den Zentimeter nach vorne zu bewegen, den es braucht, um einen gelben Knopf zu drücken. Mit ihm aktiviert Lisa einen Massagekäfer, den Schulfreundin Lena, 12, ihr auf den linken Arm gesetzt hat. Vibriert der Käfer, lacht Lisa - und steckt mit ihrer guten Laune Mitschülerin Lena an. Die soll an einem aus dicken weichen Seilen geflochtenen Netz hochklettern, die weit oben befestigten Ziffern 1, 4 und 7 abpflücken und sie anschließend addieren.

Lisa und Lena sind zwei von acht Schülerinnen der Klasse 3a am Tegelweg, eine von vier Hamburger Schulen für - so der korrekte Name - "körperliche und motorische Entwicklung". In der Ganztagsschule Tegelweg lernen 150 Jungen und Mädchen - von leicht körperlich bis schwer mehrfachbehindert - von Klasse 1 bis 10. Einen großen Anteil stellen Kinder mit Körperbehinderungen infolge von Hirnschäden. Andere Kinder sind aufgrund von Muskelerkrankungen, Querschnittslähmungen und Knochen- und Gelenkserkrankungen körperlich behindert. Viele Schüler haben Wahrnehmungsstörungen sowie Sprachbehinderungen oder Seh- und Hörbehinderungen und Epilepsie. Einige sind ununterbrochen auf helfende Hände angewiesen.

Wie Marie (Name geändert). Während ihre sechs Mitschüler sitzend oder stehend mit Lehrerin Kirsten Steen den Themenkomplex Feuerwehr erarbeiten, liegt das Mädchen bäuchlings auf einer Spezialliege und wird von einem Physiotherapeuten in einer dem Mädchen erträglichen Position gehalten. So kann es dem Unterricht folgen. Die Tegelweg-Kinder werden von 80 Sonderpädagogen, Ergo-, Physiotherapeuten und Kinderpflegerinnen intensiv betreut und unterrichtet. Junge Menschen im Freiwilligen Sozialen Jahr und bisher Zivildienstleistende unterstützen das Tegelweg-Team.

"Wir haben uns bewusst für die Körperbehindertenschule entschieden", sagen die Elternschaften und Elternräte der vier Hamburger Schulen für körperliche und motorische Entwicklung Elfenwiese, Hirtenweg, Tegelweg und Kurt-Juster-Schule jetzt in einem öffentlichen Aufruf. "Sie bieten eine individuelle, optimale Betreuung unserer Kinder durch die fachübergreifende Zusammenarbeit von Sonderpädagogen, Physio- und Ergotherapeuten und Erziehern." Die Forderung: "Hände weg von den Körperbehinderten-Schulen!" Sonderschulen wie die Schule Tegelweg sind - so fürchten es betroffene Eltern - nach den derzeitigen Plänen in Hamburg Auslaufmodelle. Seit Beginn dieses Schuljahres haben Eltern in Hamburg das Recht, den Ort der Förderung ihrer Kinder - Regelschule oder Sonderschule - zu wählen.

Diese Regel gilt zunächst für die Klassenstufen 1 und 5. Grundlage ist Paragraf 12 des Hamburgischen Schulgesetzes. Es setzt die 2009 in Kraft getretene Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen um. Sie besagt unter anderem, dass keine Kinder vom Schulbesuch ausgesondert werden dürfen. Ob lernbehindert, körperlich oder geistig behindert - allen muss der Besuch einer Regelschule ermöglicht werden. Ziel ist das "inklusive Bildungssystem". In diesem Schuljahr werden in Hamburg in den Klassen 1 und 5 rund 1000 Schüler integrativ unterrichtet. Spätestens in fünf Jahren soll - wenn sich die Pläne mit dem neuen Senat nicht ändern - in allen Klassenstufen an den Regelschulen "inklusiv" gelernt werden.

Die Sonderpädagogen und Fachkräfte, die heute ganztägig an den Förderschulen mit den behinderten Kindern arbeiten, sollen dann aus Förderzentren heraus in die Schulen gehen. Eltern körperbehinderter Kinder bereiten diese Pläne Sorgen. "Es zeichnet sich ein Trend ab, der für Kinder mit schweren Behinderungen nicht gut ist", sagt Hans-Martin Flesch, Elternrat der Schule Tegelweg. "Wir sind nicht gegen Inklusion", sagt Flesch. "Wir begrüßen die Umsetzung der Uno-Menschenrechtskonvention. Wir wollen aber festhalten, dass es viele Kinder gibt, die in einer Regelschule total überfordert sind." Um den Bedürfnissen von acht Kindern zu entsprechen, brauche es teils vier Pädagogen und Therapeuten. Ein Kind wie Lisa kann nur mithilfe von zwei Fachkräften zur Toilette gehen. Für manche Schüler sei ein Raumwechsel eine gigantische Herausforderung. An Unterricht in einer Regelklasse sei da nicht zu denken.

Die Eltern der körperbehinderten Kinder fürchten nun, dass die personellen wie sachlichen Standards, die für die erfolgreiche Arbeit an den Sonderschulen nötig sind, nicht mehr zu halten sein werden. "Woher soll das Geld für die neuen Inklusiv-Schulen kommen, wenn nicht aus dem Bestand der Sonderschulen?", fragt Flesch.

Matthias Gerber denkt weiter. "Inklusion strebt eine heterogene Schülerschaft an", sagt der Leiter der Schule Tegelweg. "So wie Inklusion in Hamburg geplant ist, führt sie zur Homogenität, weil sie die schwerstbehinderten Kinder ausschließt." Gerbers Vorschlag: "Entweder werden alle Regelschulen nach Sonderschul-Vorbild für Schwerstbehinderte ausgerüstet. Oder wir öffnen unsere Türen für nicht behinderte Kinder." Die optimalen Voraussetzungen für die Umsetzung könnte die Schule Tegelweg erfüllen. Noch-Schulsenator Dietrich Wersich (CDU) hat vor einer Woche Schulleiter Gerber einen kompletten Neubau als Ersatz für das marode Schulgebäude zugesagt.