Bis heute läuft das Volksbegehren “Wir wollen lernen“, das sich gegen die Primarschule richtet.

Hamburg. Gestern ergriff der Publizist Konrad Adam gegen die Reform Partei. Heute schreibt der Erziehungswissenschaftler Klaus Klemm, warum er den vom Senat eingeschlagenen Weg begrüßt. In der Tat: Die allgemeinbildenden Schulen Hamburgs werden auf der Grundlage des neuen Schulgesetzes stark verändert. Eine vergleichbare Umstrukturierung der Schullandschaft hat es in Deutschland seit der Einführung der gemeinsamen Grundschule zu Beginn der Weimarer Republik und seit den Umstrukturierungen in den Gründungsjahren und nach dem Ende der DDR nicht gegeben.

Die Zeit des gemeinsamen Lernens wird in der neuen Primarschule auf sechs Jahre ausgedehnt. Nur in Berlin und in Brandenburg bleibt die überwiegende Mehrheit aller Grundschüler und -schülerinnen gleichfalls bis zum Ende der sechsten Klasse zusammen.

Im Anschluss an die künftig sechsjährige Primarschule wird es nur noch zwei allgemeinbildende Schulen geben: Zum einen - wie bisher - das Gymnasium, das aber nach insgesamt zwölf Schuljahren zur allgemeinen Hochschulreife führen wird. Dazu kommt zum anderen - und das ist neu - ein zweiter Schultyp, die Stadtteilschule, an der alle Schulabschlüsse erreicht werden können. Diese Schule bereitet den Übergang in die berufliche Bildung vor, oder - für die Jugendlichen, die nach zwölf Jahren die Fachhochschulreife und nach 13 Schuljahren die allgemeine Hochschulreife erwerben - in eine Hochschulausbildung. Mit der Etablierung dieser Struktur reiht sich Hamburg in die Reihe der Bundesländer ein, die ihr Sekundarschulwesen auf Zweigliedrigkeit umgestellt haben. Dies sind - von der Einheitsschule der DDR startend - inzwischen alle neuen Bundesländer; dies sind aber auch das Saarland, Rheinland-Pfalz sowie die Stadtstaaten Berlin und Bremen.

Dieser einschneidende schulstrukturelle Umbau ist verbunden mit Änderungen im Bereich der pädagogischen Praxis in den Schulen: In den Primar- und in den Stadtteilschulen wird es kein "Sitzenbleiben" mehr geben, in den Gymnasien sollen Klassenwiederholungen in der Regel vermieden werden; in den Gymnasien und in den Stadtteilschulen wird es keinen Schulformwechsel mehr geben, Schulen bleiben bis zum Ende der Klasse 10 für die Schülerinnen und Schüler, die bei ihnen in die Klasse 7 eingetreten sind, verantwortlich; in den Stadtteilschulen werden Ansätze praxisnahen Lernens gestärkt. Auch diese Elemente finden sich in anderen Bundesländern: Nordrhein-Westfalen unternimmt große Anstrengungen, die Zahl der Klassenwiederholungen zurückzuführen, Berlin wird die Schulen der Sekundarstufen anhalten, einmal aufgenommene Schülerinnen und Schüler zu behalten, zudem wird auch in seinen Sekundarschulen - so sollen dort die nicht gymnasialen Schulen des Sekundarbereichs heißen - praxisnahes Lernen gestärkt.

Das Bemerkenswerte an der Hamburger Schulreform sind nicht ihre einzelnen Bausteine: Sie alle sind andernorts - zum Teil schon seit vielen Jahren - erprobt. Ambitioniert ist das Ensemble dieser Bausteine, die - so zusammengesetzt - tatsächlich eine neue Schullandschaft bilden. Bevor kritische Hinweise zur Gestaltung und zur weiteren Entwicklung dieses neuen Hamburger Schulwesens formuliert werden, soll noch einmal daran erinnert werden, dass deren Einzelelemente sich im Praxistest bereits vielfach bewährt haben.

Dies gilt zunächst und zu allererst für die sechsjährige Grundschule, die künftige Hamburger Primarschule. Das gegen die Verlängerung des gemeinsamen Lernens bis zum Ende der sechsten Klasse am häufigsten vorgebrachte Argument lautet: Das längere gemeinsame Lernen bremst insbesondere leistungsstarke Kinder, lässt sie langsamer lernen. Dieses Argument wurde durch die darauf bezogenen Befunde einer großen Berliner Studie widerlegt. Jürgen Baumert fasst seine Analysen der Berliner Daten so zusammen: "Die Befunde sprechen gegen die Annahme, dass mit dem frühen Übergang auf ein grundständiges Gymnasium eine generelle Förderung ... besonders leistungsfähiger Schülerinnen und Schüler erreicht wird."

Auch hinsichtlich der Zusammenführung der nicht gymnasialen Sekundarschulen kann nicht argumentiert werden, dass dieses leistungsmindernd wirke. So zeigen zum Beispiel die PISA-Befunde Sachsens und Thüringens im Vergleich zu denen anderer Bundesländer, dass diese beiden Länder mit ihren zweigliedrigen Systemen im innerdeutschen Vergleich in der Spitzengruppe liegen. Auch wissen wir aus den empirischen Studien der letzten Jahre genauer als früher, dass die Konzentration von schwächeren Schülern und Schülerinnen in einer ihnen vorbehaltenen Schule, in der Hauptschule, dort Entwicklungsmilieus hat entstehen lassen, in denen es immer schwerer fällt, Leistungssteigerungen zu erzielen. Für die Schwächsten in unseren Schulen, für die "Kellerkinder" unseres Schulgebäudes, ist die Aufnahme in die Stadtteilschule mit ihrem im Vergleich zur Hauptschule anregungsreicheren Milieu allemal ein Gewinn - zumal dann, wenn dies noch mit einer Verstärkung praxisnahen Lernens kombiniert wird.

Ausgesprochen bewährt hat sich zudem der Ansatz, junge Menschen auf anderen als dem gymnasialen Weg bis zur Hochschulreife zu führen: In Baden-Württemberg erwirbt nahezu ein Drittel aller Schüler und Schülerinnen, die bis zum Abitur gelangen, seine Allgemeine Hochschulreife in beruflichen Schulen und nicht in Gymnasien. Sie tun dies mit Leistungen, die sich mit denen des deutschen Durchschnitts "klassischer" Abiturienten durchaus messen können. Angesichts der Tatsache, dass in Deutschland insgesamt zu wenig junge Menschen bis zum Abitur geführt werden - wir haben Ärzte-, Ingenieur- und Lehrermangel! -, sind Wege wie der in Baden-Württemberg mit seinen beruflichen Gymnasien oder der jetzt in Hamburg eingeschlagene zukunftsweisend.

Es sind jedoch nicht nur die schulstrukturellen Weichenstellungen des Hamburger Schulgesetzes, die durch Entwicklungen und Erfahrungen im In- und Ausland Rückenwind erhalten. Auch das Zurückdrängen des "Sitzenbleibens" folgt gesicherten Befunden zu seiner Wirksamkeit. Dieses aus Deutschlands Schulen nur schwer fortzudenkende Instrument, das dazu beitragen soll, dass in den einzelnen Klassen Kinder und Jugendliche gemeinsam lernen, deren Leistungsfähigkeit nicht zu weit auseinanderklafft, hat sich nicht bewährt. Wie gut die Schulen auf Klassenwiederholungen - ohne Leistungseinbrüche - verzichten können, zeigen nicht nur andere Länder wie Finnland. Auch innerdeutsche Befunde belegen die Wirkungslosigkeit des "Sitzenbleibens": In Bayern bleiben jährlich 3,6 Prozent aller Schüler der allgemeinbildenden Schulen sitzen, in Baden-Württemberg sind dies nur 1,7 Prozent. Beide Länder - das mit der bundesweit höchsten und das mit der bundesweit niedrigsten Wiederholerquote - liegen bei allen PISA-Studien der vergangenen Jahre gleichermaßen im innerdeutschen Ländervergleich im Spitzenbereich. Angesichts derartiger Beobachtungen, die durch alle Studien zur Wirkung von Klassenwiederholungen untermauert werden, ist es nur vernünftig, wenn Hamburg die 24 Millionen Euro, die die Stadt jährlich für das Sitzenbleiben verausgabt, für rechtzeitige und präventive Förderung schwächerer Schüler und Schülerinnen einsetzt.

So gut begründet der Umbau der Hamburger allgemeinbildenden Schulen auch ist: Er erscheint auch voraussetzungsvoll und er hat Konsequenzen für weiter reichende Reformschritte. Voraussetzungsvoll ist er insbesondere auch dadurch, dass er darauf angewiesen ist, dass die Lehrerinnen und Lehrer die Entwicklung dieser neuen Schulen zu ihrer eigenen Sache machen. Dazu brauchen sie Weiterbildung, dazu benötigen sie Zeit, das erfordert stetig zuströmenden Nachwuchs. Der dringend erforderliche Zustrom neu ausgebildeter Lehrerinnen und Lehrer ist jedoch in einem hohen Maße gefährdet: In den Jahren bis 2015 werden insgesamt etwa 7000 Lehrerinnen und Lehrer aus dem Schuldienst des Landes ausscheiden. Um wenigstens die aktuelle Qualität der Lehrerversorgung an den Schulen der Stadt aufrechtzuerhalten, müssen jährlich etwa 800 neue Lehrkräfte eingestellt werden. Die aktuellen Studienanfängerzahlen lassen aber erwarten, dass Hamburg nicht mehr als etwa 550 Lehrer und Lehrerinnen selbst ausbildet. Da viele von ihnen nicht für die gefragte Schulform und bzw. oder nicht für gesuchte Unterrichtsfächer ausgebildet werden, wird die jährliche "Deckungslücke" noch größer ausfallen. Hamburg wird seinen Lehrerbedarf selbst dann, wenn es keine Verbesserungen bei der Stellenzuweisung an die Schulen geben sollte, nicht aus eigenen Kräften decken können. Das Land wird in hohem Umfang in anderen Ländern um Lehrer werben müssen - in Ländern, die ihrerseits bereits Lehrermangel haben bzw. sehr bald haben werden.

Wenn Hamburg - was dem Land zu wünschen ist - dieses Problem durch eine Steigerung der Erfolgsquoten in der Universität und durch eine Ausweitung der Seminarplätze in der zweiten Phase der Lehrerbildung lösen kann und wenn der Umbau gelingt, so bleibt er freilich mit einer schwerwiegenden Konsequenz verbunden. Der Aufbau der zweigliedrigen Sekundarschulstruktur wird kaum ein Zwischenschritt hin zu einer Sekundarschule für alle, wie es etwa die skandinavischen Länder kennen, sein. Ein zweigliedriges Schulsystem wird, gerade weil es manche Probleme des Sekundarschulwesens zwar nicht löst, aber doch abschwächt, ein Beitrag zur Stabilisierung des Gymnasiums sein. Umso wichtiger ist es, die Stadtteilschulen so auszustatten, dass sie nicht nur auf dem Papier, sondern auch im Alltag als den Gymnasien gleichwertig wahrgenommen werden können.