Es war mein Freund Harald, den es kalt erwischte. Eiskalt. Trotz Warnung.

Ein Gymnasium in Trier, Ende der Siebziger. Die Schule war jung, die Lehrer waren's auch, voller Ideen, den Unterricht zu reformieren und sie uns Schülern weitgehend zu überlassen. So jedenfalls haben wir den Unterricht bei allen empfunden. Bei allen - bis auf Dr. Kayser. Damals bereits gefühlt Jahre nach der Pensionierung, war er ein "Lehrer alter Schule", der sich aller Modernisierung und Liberalisierung entsagte.

Grundkurs Deutsch. Gleich in der ersten Stunde gab er seinen Bildungskanon vor. "Das alles müssen Sie gelesen und verstanden haben." Max Frisch gehörte dazu, Böll und Kästner, Grass und Brecht. Und natürlich Goethes "Faust".

Die Geschichte nahm ihren Lauf. Es war an einem Montagmorgen Monate später. Harald war müde, und er ließ es sich anmerken, Dr. Kayser seinen Ärger auch. "Herr Meier", nennen wir Harald hier, "können Sie uns diese Stelle interpretieren?" Einem kurzen Gähnen folgte ein ebenso kurzes "nö." "Sollten Sie aber, wenn ich Sie im mündlichen Abitur prüfe." Monate später das mündliche Abitur. "Herr Meier, wie interpretieren Sie denn heute diese Stelle?", stellte Dr. Kayser den Unwissenden vor ein Problem. Auch Hilfestellungen halfen nicht. Die Folge schien unausweichlich: "Wenn Sie hier keinen Punkt bekommen, fallen Sie durchs Abitur, auch wenn Ihre anderen Noten noch so gut sind." Doch dann war's Dr. Kayser selbst, der Harald die Brücke baute. "Wir befinden uns im Goethe-Jahr. Welches Jubiläum feiern wir denn, Herr Meier?" 200. Todestag?, mutmaßte Harald. Falsch. 200. Geburtstag? Ebenso. Der dritte Versuch saß. "150. Todestag?", orakelte Harald. Und bestand das Abitur - dank einem Punkt von Dr. Kayser.

Stephan Steinlein besuchte das Friedrich-Spee-Gymnasium in Trier. Abitur: 1982.

An dieser Stelle erinnern sich Abendblatt-Redakteure regelmäßig an beeindruckende Erlebnisse in ihrer Schulzeit.