Der BGH kassiert die Hamburger Entscheidung im 20-Cent-Fall. Einer der Täter könnte sogar mit einer Bewährungsstrafe davonkommen.

Hamburg. Das einst so ruhige Leben von Vera Janzen ist komplett aus den Fugen geraten. Vor zwei Jahren ist es in 1000 Stücke zerbrochen, wie ein zu Boden gefallener Spiegel. Seither plagt sich die 65-Jährige damit ab, die Scherben ihres Lebens zusammenzukehren - ohne die Medikamente gegen die Depressionen ginge gar nichts. Erst die unfassbare Tragödie , der gewaltsame Tod ihres Sohnes Thomas, dann die fortgesetzten Pannen der Hamburger Justiz. Manchmal hält sie darüber leise Zwiesprache mit ihrem Sohn, wenn sie sein Grab auf dem Friedhof in Winsen besucht. Auf seinem Grabstein steht ein Wort, es sagt so viel: "Unvergessen."

Nun steht der 65-Jährigen ein weiterer, herber Schlag bevor: Einer der Schläger, die ihren Sohn im Streit um läppische 20 Cent tot geprügelt hatten, könnte nun mit einer noch milderen Strafe davonkommen. Ihn hatte das Landgericht im Dezember 2010 zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und vier Monaten verurteilt.

Doch jetzt hat der Bundesgerichtshof (BGH) das Urteil gegen Onur K., 18, aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung nach Hamburg zurückverwiesen. Die Karlsruher Richter rügten den Schuldspruch als zu hart. Grund: Dem Erziehungsgedanken, der jeder Jugendstrafe zugrunde liegt, habe die Hamburger Kammer nicht die "gebührende Beachtung" geschenkt. Vom 5. Dezember an muss die Große Strafkammer 4 über die Höhe der Strafe neu verhandeln. "Die Chance, dass eine Bewährungsstrafe ausgesprochen wird, ist gegeben", sagt Onur K.s Verteidiger Siegfried Schäfer. Auch wenn es juristisch vertretbar sein mag - menschlich ist der BGH-Beschluss kaum vermittelbar. Kein Tag vergeht, ohne dass die 65-Jährige, die in Bad Bramstedt lebt, an ihren Sohn denkt. An Thomas, der mit seinem Dreitagebart verwegener aussah, als es seinem gutmütigen Wesen entsprach. Der mehr an andere als an sich dachte, der den dementen Großvater 15 Jahre pflegte. "Und Onur soll jetzt so billig davonkommen?", sagt Vera Janzen.

+++ 20-Cent-Mord: Verdächtiger bricht Freundin das Wadenbein +++

+++ Die dicke Strafakte des 20-Cent-Schlägers Berhan I.+++

Onur K. sieht aus wie sein Kumpel Berhan I., 19. Er ist ein wenig schmächtiger, 1,63 Meter groß, an den Seiten kurz geschorene Haare. Am 12. Juni 2009 stromern die Jugendlichen aus Wilhelmsburg durch Harburg. Sie suchen Streit. Im Fußgängertunnel am Bahnhof treffen sie auf zwei angetrunkene Männer, einer ist Thomas Janzen. "Hast du 20 Cent?", fragt einer der Jugendlichen. Onur hat ein paar Stunden Kickboxen trainiert. Als sich der hünenhafte, 44 Jahre alte Dachdecker weigert, springt der kleine Onur gleich hoch - und landet mit der Faust einen Schlag im Gesicht von Janzen, der rücklings und ungebremst mit dem Kopf aufs Pflaster knallt. Dann treten sie auf ihn ein. Drei Wochen später ist Janzen tot - nicht wegen der Tritte, sondern wegen dieses einzigen fatalen Faustschlags.

Für Vera Janzen beginnen ab März 2010 "fürchterliche Monate". An jedem Verhandlungstag sitzt sie den Tätern gegenüber. Muss ihr Grinsen ertragen und wie sie nach einer Verhandlung einmal respektlos vor ihr die Treppe im Gericht hinuntertänzeln. Der Prozess ist ein Debakel, eine Panne jagt die nächste. Erst kommt eine Richterin nicht aus dem Urlaub zurück, weil die Aschewolke aus dem isländischen Vulkan Eyjafjallajökull den Flugverkehr in Europa lahmlegt - der Prozess platzt. Dann terminiert der Vorsitzende Richter den Wiederholungsprozess so spät, dass Fristen verstreichen und das Oberlandesgericht die Schläger im Mai aus der U-Haft entlassen muss. Fünf Wochen später bricht Berhan I. seiner Freundin das Wadenbein.

Im Dezember verurteilte das Landgericht die beiden Jugendlichen schließlich wegen gefährlicher Körperverletzung mit Todesfolge. Einen Tötungswillen erkannte es nicht - die Tat sei aus purer Streitlust entstanden. Schon das "milde Urteil" hat Vera Janzen maßlos enttäuscht, der BGH-Beschluss macht sie sprachlos. Schier unerträglich der Gedanke, dass nur der eine Schläger, Berhan I., seine Strafe von drei Jahren und zehn Monaten absitzen muss, Onur K. aber frei herumlaufen darf. Eine harte, jahrelange Haft mache ihren Sohn zwar nicht wieder lebendig. "Aber es wäre ein Trost und nur gerecht", sagt Vera Janzen.

Nur, so funktioniert das Jugendstrafrecht nicht: Verhängt das Gericht eine Jugendstrafe, steht neben der individuellen (schweren) Schuld immer der Erziehungsgedanke im Vordergrund und damit die entscheidende Frage: Wie ist auf den Täter einzuwirken, damit er nicht noch einmal kriminell wird? Diesen erzieherischen Grundgedanken habe die Hamburger Kammer im Fall von Onur K. aus den Augen verloren und den "Ausnahmecharakter" der Tat verkannt, rügte der BGH.

Wolfgang Sielaff, Landeschef des Opferverbands Weißer Ring, zeigt sich überrascht von dem Beschluss, zumal "die Entscheidung der Hamburger Jugendkammer aus unserer Sicht nachvollziehbar war". Ähnlich sieht es der Landesvorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), Andre Schulz: "Nicht alles, was juristisch möglich ist, wird von der Gesellschaft als moralisch richtig angesehen." Dabei habe das Gericht mit dem relativ milden Urteil deutlich gemacht, dass den Anforderungen des Jugendstrafrechts Genüge getan wurde. Vera Janzen ist das egal, sie will nur eins: "Dass beide ihre Strafe verbüßen und ich endlich mit dem Fall abschließen kann."