Polizei vermutet die 16-Jährige in der Großfamilie ihres Freundes, wo sie geschlagen und illegal verheiratet werden könnte.

Hamburg. Das letzte Lebenszeichen von Anica El Nagi stammt vom 14. Januar. An diesem Montag wählt der Sachbearbeiter dieses Vermisstenfalls die Mobilfunknummer der 16-Jährigen, so wie er es in den Wochen zuvor immer wieder getan hatte. Doch im Gegensatz zu seinen vorherigen Versuchen ist Anicas Handy nicht ausgeschaltet. Die junge Frau meldet sich sogar. Als sie jedoch erkennt, wer am anderen Ende der Leitung spricht, legt sie sofort wieder auf.

Viereinhalb Wochen sind zu diesem Zeitpunkt bereits seit dem Verschwinden der jungen Frau aus Lurup am 15. Dezember 2012 vergangen. Mittlerweile sind es siebeneinhalb. Und die Ermittler des Polizeikommissariats 26 am Blomkamp in Osdorf haben kein weiteres Lebenszeichen von ihr auffangen können - trotz Öffentlichkeitsfahndung, trotz Aufrufen im Internet.

Die Beamten haben die Hoffnung jedoch nicht aufgegeben. Und die Chancen stehen nicht schlecht, Anica doch noch zu finden, besser jedenfalls als in anderen Vermisstenfällen. Schließlich gibt es bei der Polizei Vermutungen, dass die 16-Jährige im Umfeld der Roma-Großfamilie ihres Freundes untergetaucht ist oder dort festgehalten wird - und dass die Minderjährige gegen den Widerstand ihrer Sorgeberechtigten nach den Traditionen der Familie verheiratet werden könnte.

Neun Tage vor Weihnachten verliert sich ihre Spur, als die schwarzhaarige junge Frau ihre Wohngruppe an der Flurstraße in Lurup verlässt. Es ist bereits 22 Uhr. Sie wolle in einer halben Stunde wieder zurück sein, sagt sie. Doch sie kehrt nicht zurück. "Sie hat keine Angaben gemacht, wo sie an diesem Sonnabendabend hinwollte", sagt Polizeisprecherin Sandra Levgrün. "Auch wenn sie sich sonst frei bewegen konnte, spätestens um 23 Uhr hätte sie zurück sein müssen." Die Polizei hofft bei der Suche nach Anica auf Hilfe aus der Bevölkerung: "Die Jugendliche bedarf dringend ärztlicher Hilfe", sagt Levgrün. Außerdem: Anica sei für ihr Alter noch äußerst naiv und habe kognitive Schwächen.

Zehn Kinder und Jugendliche im Alter von sechs bis 17 Jahren leben in der "Distel Lurup", wie die vom Kinderheim Erwin Steffen betriebene Wohngruppe heißt. Der Träger hat seinen Sitz in Dänischenhagen, einer kleinen Gemeinde nahe Kiel, unterhält insgesamt sieben ähnliche Angebote im Norden. Anica lebt seit mehreren Jahren in Lurup, ihre Mutter wohnt in Harburg. Es gibt schwere Differenzen in der Familie. Das Leben der 16-Jährigen scheint vor ihrem Verschwinden dennoch weitgehend normal: Sie besucht eine Stadtteilschule im nahen Altona, das Verhältnis zu ihren Betreuern ist gut, und sie hat einen Freund.

Doch der Mann ist 14 Jahre älter, bereits 30 Jahre alt. Wann sie ihn kennengelernt hat, ist nicht klar. Das Verhältnis ist enger, als es die Betreuer erlauben können. Immer wieder spricht die junge Frau von Hochzeit, auch ihr Freund soll ähnliche Andeutungen gemacht haben. Mehrfach rücken Betreuer bei der weit verzweigten Familie des Mannes in Osdorf an, um Anica zurück in die Wohngruppe zu holen, wenn sie die Nacht bei ihm verbringen will.

Außerdem soll es bereits zu Handgreiflichkeiten in der Beziehung gekommen sein, ihr Freund soll Anica geschlagen haben. Nach ihrem Verschwinden zeigt sich der Mann äußerst unwillig, mit der Polizei zusammenzuarbeiten. Informationen gibt er nur bruchstückhaft heraus. "Es war kaum etwas aus ihm herauszubekommen", sagt Levgrün. Auf Anicas Spur führt er die Ermittler nicht.

Ihre Betreuer in der Wohngruppe hoffen auf ein neues Lebenszeichen der 16-Jährigen. "Wir möchten, dass sich Anica bei uns meldet. Wir sind nicht im Streit oder im Bösen auseinandergegangen", sagt Toni Dix, Chef der Kinderheim-Gesellschaft. "Sie ist jederzeit herzlich willkommen, kann jederzeit zu uns zurückkommen."

Nach Angaben des Hamburger Vereins Initiative Vermisste Kinder, der unter anderem auf Facebook Suchaufrufe nach Anica gestartet hat, gehen bundesweit jedes Jahr mehr als 100.000 Vermisstenanzeigen bei der Polizei ein, die allein Kinder und Jugendliche betreffen. Die meisten Fälle werden schnell aufgeklärt. Allerdings bleibe eine erhebliche Zahl von offenen Fällen: Im Jahr 2012 war das Schicksal von 1946 vermissten Minderjährigen ungeklärt.

Anica El Nagi ist 1,65 Meter groß und schlank. Sie hat dunkle Haare und trug am Abend ihres Verschwindens eine dunkle Jacke, blaue Jeans und dunkle Stiefel ("Ugg-Boots). Sie hatte eine ovale Handtasche mit Leopardenmuster bei sich. Die Polizei bittet um Hinweise unter Telefon 428 65 26 01.