Vor zehn Jahren geschah der erste der “Döner-Morde“. Das war der Beginn einer der längsten deutschen Mordserien. Ein Toter auch in Hamburg.

Hamburg/Nürnberg. Eigentlich hatte Enver S., 38, an jenem Sonnabendnachmittag, dem 9. September 2000, heute vor genau zehn Jahren also, ein freies Wochenende mit der Familie verbringen wollen. Weil der einzige Angestellte seines kleinen mobilen Blumenladens ihn aber um einige Urlaubstage gebeten hatte, musste der Chef selbst an den Stand und seinen Stammkunden im nahen Nürnberg Rosen, Chrysanthemen, Astern und Gladiolen verkaufen. Sie waren es gewohnt, dass der Mann mit dem Lieferwagen und dem Tapeziertisch sonnabends dort stand. Es war immer so.

Das Geschäft ging gut an jenem Tag. Mehrfach holte der Blumenhändler Nachschub aus seinem Mercedes Sprinter, drapierte die Ware auf dem Tisch. Dann, T. beugte sich wieder in seinen Wagen, trafen ihn neun Schüsse. Ohne Vorwarnung und von hinten nahm man den 38-Jährigen unter Feuer. Und niemand hat gesehen, wie dies geschah. Enver S. starb zwei Tage später im Krankenhaus.

So merkwürdig die Tat den Ermittlern schon damals schien - sie konnten nicht ahnen, dass sie den Beginn der längsten und mysteriösesten Mordserie der deutschen, vielleicht gar der europäischen Kriminalgeschichte bilden sollte. Acht türkischstämmige und ein griechischer Kleingewerbler sind seitdem in verschiedenen Städten Deutschlands erschossen worden. Immer mit derselben Waffe. Unter ihnen war auch der Altonaer Gemüsehändler Süleyman Tasköprü. Als "Döner-Morde" machten die Taten Schlagzeilen. Dabei waren nur zwei der Opfer Dönerbräter.

+++ SO KRIMINELL IST IHR STADTTEIL +++

Noch immer arbeiten Fahnder in Hamburg und Nürnberg Hinweise auf den oder die Täter ab. Der deprimierende Zwischenstand zum 10. Jahrestag des ersten Mordes: Eine heiße Spur fehlt noch, Annahmen haben sich nicht bestätigt, Hinweise führen ins Nichts, statt Fakten gibt es Hypothesen. Im Hamburger Fall wie in allen anderen.

Im Juni 2001, ein Dreivierteljahr nach dem Fall Enver S., hatte es den Nürnberger Schneider Abdurrahim Ö. getroffen, zwei Wochen nach ihm starb Süleyman T. in seinem Geschäft an der Schützenstraße, im August 2001 der Münchner Gemüsemann Habil K.

Nach einer Pause von mehr als zweieinhalb Jahren mordete der Unbekannte weiter: Dönerverkäufer Yunus T. in Rostock, Ismail Y., ebenfalls Dönermann, wieder Nürnberg, dann Theodoros B., Schlüsselmacher in München, Kioskbesitzer Mehmet K. aus Dortmund und am 6. April 2006 Halit Y., ein Internetcafé-Betreiber aus Kassel.

All diese Männer wurden in ihren Läden erschossen, alle mit derselben Waffe, einer Ceska, Modell 83, Kaliber 7,65 mit Schalldämpfer. Eine Blutspur, aber kein Muster, eine Serie scheinbar ohne Sinnzusammenhang. Selbst die ausgesetzten 300 000 Euro Belohnung haben noch niemanden bewogen auszupacken. Es scheint, als sei tatsächlich ein mordendes Phantom unterwegs.

In Hamburg ermittelt das auf organisierte Kriminalität (OK) spezialisierte LKA 6 in Sachen des Altonaer "Döner-Mordes". Bei OK-Ermittler Felix Schwarz laufen die Fäden zusammen. Schwarz hat trotz vieler vergeblicher Ermittlungen noch Hoffnung, dass doch ein Durchbruch gelingt: "Natürlich geben wir nicht auf. Es gibt noch immer gelegentlich Hinweise. Denen wird natürlich genauestens nachgegangen." Wir kriegen sie alle - das ist eine der internen Losungen der Hamburger Polizei. Zur Hochphase der Mordserie hatten bundesweit mehr als 160 Ermittler nach dem Täter gefahndet. Überall dort, wo gemordet worden war.

In Nürnberg, wo sich drei der neun Morde ereigneten, gründete Polizeichef Wolfgang Geier die 60 Mitarbeiter starke Soko "Bosporus". Die Beamten filzten 30 Millionen Daten, verglichen Namen und Passagierlisten von Inlands- und Türkeiflügen, sahen Mietwagenverträge durch, prüften Tankstellenquittungen und Abhebeprotokolle von EC-Automaten, um Personen herauszufiltern, die zu den Tatzeiten an den Tatorten waren. Vergeblich. Ende 2009 wurde die Soko aufgelöst.

Wolfgang Geier, 55, ist inzwischen Chef der Kripo Unterfranken. Die "Döner-Morde" lassen ihn nicht los. Geier: "Ich mache mir Gedanken, ob wir wirklich alles versucht haben. Es ist ein Albtraum, dass er noch mal zuschlägt." Zwei Theorien gibt es: "Eine organisierte Gruppe bestraft Mitglieder, oder ein Einzeltäter tötet aus Hass", sagt Geier. Er selbst glaubt eher an die zweite These. Ermittlungen in Richtung der Drogen- und Wettmafia verliefen im Sande. Die Getöteten kannten sich nicht, hatten keinerlei Verbindung, und außer der Tatsache, dass sie südländische Gewerbetreibende in Deutschland waren, auch kaum Gemeinsamkeiten.

Wie bei einem Puzzle ohne Vorlage schoben die Ermittler die bruchstückhaften Erkenntnisse hin und her: Die Tatzeit war in allen Fällen tagsüber, fünf Fälle ereigneten sich an einem Mittwochvormittag. Die professionelle Vorgehensweise nährt den Verdacht, es könne sich um einen oder mehrere Profi-Killer handeln, die aus der Türkei eingeflogen werden. Doch warum mussten die Männer sterben? Waren sie Angehörige einer Organisation, von der nicht einmal die engsten Verwandten wussten? Wurden sie erpresst, ihr Gewerbe für illegale Machenschaften zur Verfügung zu stellen?

Mehrere der Opfer waren vor der Tat bedroht worden. Manche hatten Geldnot, andere zumindest in der Vergangenheit Kontakt zum Drogenmilieu. Ermittlungen in der Türkei endeten in deprimierender Erkenntnislosigkeit.

Profiler nahmen sich des Falls an, erstellten das Bild eines möglichen reisenden Serienmörders. Es könne sich um einen in seiner Normalität kaum vom Bevölkerungsdurchschnitt zu unterscheidenden Familienvater handeln, lautet deren wenig zielführende Analyse: "Wir halten diese Person weder für ein Monster noch für einen durchgeknallten Verrückten." Vielleicht habe der Täter vor der ersten Tat ein negatives Schlüsselerlebnis mit türkischen Männern gehabt. Mit ziemlicher Sicherheit kennt er sich in Nürnberg aus, hat dort einen Ankerpunkt. Zeitweise geriet ein Verfassungsschützer aus Kassel ins Visier der Fahnder, weil er mehrfach in der Nähe war, als Morde passierten. Doch das war nur Zufall.

Vielleicht, und das ist die größte Hoffnung der Ermittler, führt eben diese Waffe als einziges verbindendes Element zwischen den Taten, ja doch noch zum Serienmörder. Die Ceska, so viel ist bekannt, war 1993 vom tschechischen Hersteller in einer Marge von 24 baugleichen und nummerierten Waffen an den schweizerischen Waffenimporteur Luxik geliefert worden. 16 Waffen dieser Lieferung haben die Fahnder ausfindig gemacht und auf das Schussbild geprüft. Die Tatwaffe ist nicht darunter. Wieder 16 Enttäuschungen. Ex-Soko-Chef Geier hofft weiter, dass der Serienmörder, wo immer er auch ist, sich irgendwann mit der Waffe im Gepäck erwischen lassen möge. "Der", so sagt er, "müsste uns dann einiges erklären."