Faouzane B. starb nach einem Routineeingriff. Die juristische Verantwortung muss nun die Anästhesistin allein tragen. Zu Recht?

Hamburg. Der Vater des toten Jungen war nicht im Gerichtssaal, als gestern das Urteil gegen die Narkose-Ärztin Asnath B. verkündet wurde. Kpejouni B. hatte zum Prozessauftakt am 9. November angekündigt, es ginge ihm nicht um Vergeltung. Sein Ziel sei es, dass kein anderes Kind das Schicksal seines Sohnes Faouzane (9) teilen müsse. Der sichtlich überforderte Mann eilte damals unter Tränen aus dem Gerichtssaal. "Ich will alles nur hinter mir lassen", sagte der 40-Jährige.

Für ihn war der Prozess vor dem Amtsgericht Harburg die Fortsetzung eines Albtraums. Er wachte am 14. März 2007 an der Seite seines narkotisierten Sohnes, nachdem er nach einem Routineeingriff in den Aufwachraum gebracht worden war. Er schnarchte, das fand Kpejouni B. irgendwie seltsam. Arzthelferinnen, die er darauf ansprach, hätten ihn jedoch zur Geduld gemahnt, während der Operateur ein Kind nach dem anderen in den Aufwachraum brachte. Keine 20 Minuten später setzte Faouzanes Atmung aus. Schwerste Hirnschäden waren die Folge. Eine Woche später war er tot.

Immerhin hatte die Tragödie einen Effekt auf die Ausstattung: Pulsoximeter setzt die Praxis nun standardmäßig im Aufwachraum ein. Die Geräte, die an den Finger geklippt werden, um die Sauerstoffsättigung im Blut zu überwachen, hätten laut Gutachter seinem Sohn das Leben gerettet.

Sie waren jedoch auch vor zwei Jahren schon verfügbar. Dass Asnath B. den Jungen damals nicht an ein Pulsoximeter anschloss, stufte das Amtsgericht rechtlich als fahrlässige Tötung durch Unterlassen ein. Asnath B., so die junge Amtsrichterin in der Urteilsbegründung, habe ihre Überwachungspflicht sträflich vernachlässigt. Dafür verurteilte das Gericht die Lüneburgerin zu einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen à 60 Euro.

Die Verteidiger von Asnath B. kündigten umgehend an, gegen das Urteil Berufung einzulegen. Sie hatten einen Freispruch ihrer Mandantin gefordert. "Der Operateur hätte auf der Anklagebank sitzen müssen", hieß es. Auch Freunde der Ärztin äußerten im Gerichtssaal ihren Unmut. "Da wird die Falsche gehängt", war etwa zu hören.

Seit 1992 arbeitete Asnath B. in der Praxis von Dr. Horst B. Bis zu 16 Operationen bewältigte das Team am Tag. Bevor Faouzane an jenem 14. März an den Polypen operiert werden sollte, waren drei Patienten vor ihm dran - um 8 Uhr morgens. Die OP verlief, so das Gericht, erfolgreich. Der Junge habe unter der Narkose Reflexe gezeigt und geatmet. Wie üblich trug Horst B. das Kind dann in den Aufwachraum, wo sein Vater auf ihn wartete. Unbemerkt vom Personal, setzte dann die Atmung des Jungen minutenlang aus - möglicherweise weil Blut in den Rachenraum geflossen war. Als Dr. B. die lebensgefährliche Situation erkannte, war es bereits zu spät: Faouzane, in der Praxis noch wiederbelebt, starb eine Woche später im Kinderkrankenhaus Altona an einer Hirnschwellung.

Doch wer hat hier versagt? Wer trug die Verantwortung? Nach Angaben von Asnath B. war ihr Platz im Operationsraum. Dort habe sie Narkosen ein- und ausgeleitet, mehr nicht. Für die postoperative Überwachung sei indes Horst B. zuständig gewesen. Schließlich habe er zumeist auch die Aufwachgebühr mit der Kasse abgerechnet. Das Gericht sah das anders: Dass Horst B. die Gebühr kassierte, sei strafrechtlich irrelevant und nicht gleichbedeutend mit einer Übertragung der Verantwortung auf ihn. Zwar hatte auch Horst B. eine Überwachungspflicht - umgekehrt spreche das Asnath B. jedoch nicht von der Narkose-Nachsorge frei.

Nach Auffassung des Gerichts litt die Organisation in der HNO-Praxis vielmehr unter einem "strukturellen Mangel". Eine ambulante Operation jagte die nächste, teils im 15-Minuten-Takt. Doch konkrete Absprachen, wer für die Nachsorge der narkotisierten Patienten zuständig sei, seien nie getroffen worden. "Zeit- und Ressourcendruck darf nicht dazu führen, dass der Anästhesist seine Sorgfaltspflichten vergisst", sagt die Richterin. Doch das auf Effizienz getrimmte System mit Asnath B. im OP und unklaren Zuständigkeiten im Aufwachraum funktionierte, ohne dass etwas passierte. Asnath B., so das Gericht, habe sich in trügerischer Sicherheit gewogen, dass dies auch so bleibe.

Bei dem Harburger Modell handele es sich indes keinesfalls um ein "exotisches", sagte Professor Dr. Uwe Schulte-Sasse, Chef der Klinik für Anästhesie und Operative Intensivmedizin am Klinikum am Gesundbrunnen in Heilbronn, dem Abendblatt. Der Experte ist Gutachter in einem ganz ähnlichen Fall, der vorm Landgericht Limburg verhandelt werden soll. Einem schwerbehinderten Mädchen (10) waren im Oktober 2007 in einer Zahnarztpraxis unter Narkose vier Zähne entfernt worden. Nach der OP erlitt es einen Herzstillstand, wurde wiederbelebt, starb aber neun Tage später. Die Staatsanwaltschaft ermittelte zunächst nur gegen den Anästhesisten - bis Schulte-Sasse auch die Verantwortung des Operateurs herausarbeitete. Nun werden beide Ärzte angeklagt.

In der Praxis bestimme der hohe Kostendruck den Arbeitsalltag, so Schulte-Sasse. Meist könne es sich ein Praxisbetreiber gar nicht leisten, einen Anästhesisten für die Überwachung nach einer OP abzustellen. Stattdessen würden damit häufig "unqualifizierte Kräfte" beauftragt - wenn überhaupt. Weil ambulante Operationen nur "in hoher Stückzahl" profitabel seien, gebe es nicht selten Defizite bei der postoperativen Überwachung. Da strichen die Ärzte zwar die Gebühr ein, sparten jedoch an Leistung. Schulte-Sasse: "Ein System, das aus der Kurve fliegen musste." Für Asnath B. hat sich der Tod von Faouzane zur persönlichen Tragödie und zum beruflichen Desaster ausgewachsen. Einige Ärzte hätten nach Bekanntwerden der Vorwürfe die Zusammenarbeit mit ihr beendet. Sie besuche eine Traumatherapie, sagte sie. Umgeben von ihren Freunden, wie in einem Kokon, verlässt Asnath B. nach dem Urteil den Gerichtssaal. Ihrem Kollegen Horst B. könnte es bald ähnlich ergehen: In der Hauptverhandlung hätten sich neue Gesichtspunkte über "Zuständigkeiten und Praxisabläufe" ergeben, sagte Oberstaatsanwalt Wilhelm Möllers. "Wir prüfen, ob wir wieder in die Ermittlungen einsteigen."