Heilpraktikerin Nicole Jäger hat 160 Kilogramm verloren und ist jetzt selbst Ernährungsberaterin. Donnerstag ist sie zu Gast in NDR-Sendung „Das!“

Eppendorf. Ans Tuscheln und an die grinsenden Blicke der anderen hat sich Nicole Jäger gewöhnt, wenn sie irgendwo auftaucht. 180 Kilogramm Körpergewicht bei 1,77 Meter Körpergröße sind schwerlich zu übersehen. „Ich bin nun mal eine blonde, fette Frau – noch“, sagt die 32 Jahre alte Hamburgerin und schüttet beherzt einen gehäuften Teelöffel Zucker in ihren Latte macchiato. „Kaffee trinke ich immer mit Zucker. Sonst schmeckt er nicht.“ Überhaupt esse sie alles, worauf sie Appetit habe, und davon sogar reichlich, nachdem zuvor fünf Kuren und zahllose weitere Diätversuche mit Grandezza gescheitert waren. Dennoch habe sie abgenommen. 160 Kilogramm, in knapp sechs Jahren.

Sie sei ein properes Baby gewesen, ein moppeliges Kind, ein vielleicht etwas kräftiger gebauter Teenager, erzählt Nicole Jäger. Im Prinzip also ein ganz normales Mädchen, das gerne Trampolin turnte – bis zu diesem blöden Unfall auf dem gefährlichen Sportgerät, der ihr beide Oberschenkelknochen aus den Hüftpfannen riss. Diese eine unglückliche Landung bedeuteten insgesamt 24 Monate Krankenhaus, Operationen, Schmerzen, Entbehrungen – kaum Bewegung.

Doch im Essen fand sie Trost, Essen und Süßigkeiten gingen immer, es war ein schleichender Prozess, sie schaufelte immer mehr in sich hinein und kehrte als Dicke auf die Ida-Ehre-Gesamtschule zurück, um ihr Abitur zu machen. „Ich hatte ja den Unfall. Der diente mir als Legitimation, dick sein zu dürfen.“ Während ihrer Ausbildung zur Heilpraktikerin und heiltherapeutischen Psychologin kletterte ihr Gewicht über die 200-Kilogramm-Marke. „Meine Eltern haben natürlich versucht, auf mich einzuwirken, meine Freunde haben versucht, mir zu helfen, aber je mehr auf mich eingeredet wurde, desto mehr habe ich zugemacht“, sagt Nicole Jäger. Und nach jedem Diätversuch griff der Jo-Jo-Effekt.

Sie „flüchtete“ nach Berlin, vorgeblich, um auf neuem Terrain durchzustarten, in Wahrheit, um sich weiterzumästen und ihr eigenes Unglück zu pflegen. Bis der Tag kam, an dem sie nur noch auf zwei Spezialwaagen gleichzeitig steigen konnte. „Ich war bei 340 Kilogramm angekommen. Da hat es bei mir klick gemacht“, sagt Nicole Jäger. „Es gibt so viele Möglichkeiten, um sich aus dem Leben rauszukatapultieren. Aber totfressen wollte ich mich dann doch nicht.“ Damals konnte sie gerade mal noch zehn Sekunden aufrecht stehen. Sie konnte ihre Wohnung nur unter größten Schwierigkeiten verlassen, sie konnte ihren Beruf nicht mehr ausüben, sie machte gar nichts mehr – außer zu essen, noch mehr zu vereinsamen und das bittersüße Gefühl zu pflegen, unzulänglich zu sein. Um sich dann noch intensiver vor sich selbst zu schämen und noch mehr zu essen.

„Maßlosigkeit ist häufig ein Symptom für ein persönliches Defizit oder ein Problem. Das kann sich rasch zu einer Sucht entwickeln – und ehe man sich’s versieht, steckt man in diesem Teufelskreis, aus dem man eigentlich unbedingt rausmöchte, aber leider endet die Welt des Süchtigen zumeist direkt vor seiner eigenen Stirn.“ Die Ärzte, die Nicole Jäger damals konsultierte, rieten unisono zum Dünndarmbypass.

Bei dieser „Malabsorption“ wird die Nährstoffaufnahme aus dem Essen gemindert, indem man Teile des Dünndarms der für den Transport von Nährstoffen ins Blut hauptverantwortlich ist, abtrennt oder ganz entfernt. Ein risikoreicher Eingriff, der häufig mit starken Nebenwirkungen wie Mangelerscheinungen einhergehen, die dann wiederum medikamentös behandelt werden müssen. Davor scheute Nicole Jäger zurück. Auch weil sie mittlerweile erkannt hatte: „Das Problem von Dicken sind in den seltensten Fällen der Darm oder der Magen, sondern es ist der Kopf. Wir sind nämlich wahre Meister im Selbstbetrug.“ Das betreffe auch Diäten. „Schnell, einfach und gesund funktioniert nicht. Mit jeder Diät beginnt man einen Krieg gegen den eigenen Körper. Nachhaltiges Abnehmen dagegen beinhaltet komplettes Umdenken plus reine Physik“, sagt Nicole Jäger. „Am Anfang steht die absolut ehrliche Bestandsaufnahme. Dann findet man raus, welcher Kalorientyp man ist, und ermittelt sein persönliches Kaloriendefizit, das dann aber auch strikt eingehalten werden muss.“

In drei Jahren will Nicole Jäger weniger als 100 Kilogramm wiegen

Nicole wollte jedoch nicht „verzichten“, sondern fortan 500 Kalorien täglich „sparen“, was einem wöchentlichen Gewichtsverlust von etwa 500 Gramm Fett entspricht – rund 25 Kilogramm im Jahr. Sie vermied es zwar, Kohlenhydrate nach 18 Uhr zu essen, „damit die Leber in der Nacht ungestört Fett abbauen kann“, doch ansonsten aß und trank sie alles. „Aber immer nur gutes, gesundes, leckeres Essen. Denn Essen sollte immer ein Genuss sein!“ Als sie – wieder im vertrauten Hamburg, unter Freunden – unter die 300-Kilogramm-Marke rutschte, konnte sie langsam wieder mit Bewegung beginnen, zunächst mit Schwimmen, was den wöchentlichen Gewichtsverlust um das Doppelte beschleunigte. „Doch für eine nachhaltige Gewichtsreduktion benötigt man schon eine Menge Geduld, Disziplin und nicht zuletzt auch Gelassenheit. Wer sich aber beim Abnehmen stresst, handelt kontraproduktiv.“

Inzwischen arbeitet sie seit gut einem Jahr als selbstständiger Ernährungscoach. An Klienten dürfte kein Mangel herrschen: immerhin gelten ja 70 Prozent der Deutschen als übergewichtig. „Ja, es läuft tatsächlich so gut, dass ich im November in Eppendorf jetzt meine Praxis für ganzheitliche Ernährung eröffnen kann“, sagt sie selbstbewusst, „bisher haben mir meine Klienten alle vertraut und sind erfolgreich mitgezogen: vor allem, wenn sie nach der ersten Verwunderung über meine Figur erfahren haben, dass ich meine 160 Kilogramm ohne eingeschränkte Lebensqualität verlieren konnte – im Gegenteil.“

In ungefähr drei Jahren, glaubt Nicole Jäger, könne sie sich wohl endlich ihren Lebenstraum erfüllen: Dann will sie auf eine ganz normale Waage steigen und ein zweistelliges Ergebnis aufblitzen sehen.