Das Zwick am Mittelweg feiert 60., ein Drittel dieser Zeit hat Udo Röbel als Stammgast erlebt. Eine Liebeserklärung

Es war 1989 und ich erst ein paar Monate in Hamburg. Wie jeden Abend fuhr ich nach Redaktionsschluss mit dem Auto nach Hause, wie jeden Abend über den Mittelweg, Richtung stadtauswärts.

Warum ich an diesem Abend an der Hausnummer 121 b stoppte, weiß ich bis heute nicht. Die Kneipe in dem alten Eckhaus hatte bis dahin kein sonderliches Interesse in mir geweckt. Wenn überhaupt, so muss es an dem stechenden Durst auf ein Feierabendbier gelegen haben, der mich urplötzlich überfiel.

Zu meiner Enttäuschung war die Kneipe leer. Auch im Vorgarten saß kein Gast. Der einzige Mensch in diesem Laden war ein rübezahlähnliches Wesen mit langen zotteligen Haaren und Rauschebart, das hinter dem Tresen stand und gelangweilt Gläser polierte.

Ich wollte gerade wieder gehen, als ich auf dem Absatz kehrt machte. Aus den Lautsprecherboxen unter der Decke erklangen die ersten Takte einer alten Rockballade:

"You'll accomp'ny me ... Someday lady you'll accomp'ny me ..."

Wehmut durchschoss mein Herz. "Bob Seger", sagte ich. "Dieses Lied habe ich schon seit ewigen Zeiten nicht mehr gehört." Und dann bestellte ich ein Bier und erzählte Rübezahl von der Nacht, in der ich im jugendlichen Liebeskummer diesen Song 200-mal hintereinander gespielt hatte.

Rübezahl nickte und stellte sich mit einem schmerzhaften Händedruck als "Wolle" vor.

Es blieb nicht bei einem Bier. Nach dem dritten bestellte ich eine Pizza, so knusprig, wie ich sie noch nie bei einem Italiener gegessen hatte. Nach dem vierten Bier wurde der Laden immer voller. Nach dem fünften lieferte ich einem bis zum Hals tätowierten Rocker ein Luftgitarren-Duell - und nach dem wer-weiß-wievielten grölten wir zusammen mit einem Banker im Armani-Anzug die alte Rolling-Stones-Hymne "Sympathy for the Devil".

In dieser Nacht musste ich mit dem Taxi nach Hause. Am nächsten Abend, als ich mein Auto holen wollte, ebenfalls. Von da an war das Zwick mein "Wohnzimmer".

Nach "Wolle" lernte ich nach und nach auch die andere Stammbesatzung des Zwick-Dampfers kennen:

Jaqui, die jetzt schon seit 28 Jahren bedient, Tina, die im Hauptberuf Film- und Fernsehstars schminkt, "Haschi", die graubärtige Eiche, der mal Kampfschwimmer bei der Bundeswehr war, und "Lupo", ein ehemaliger Fluglotse, der inzwischen 12 000 Rock-Songs auf seinem Musikcomputer gespeichert hat.

Und natürlich Uli Salm, den Besitzer, der sich freuen kann wie ein Kind unter dem Weihnachtsbaum, wenn er wieder einmal ein altes Band-Foto oder ein seltenes Konzertplakat entdeckt hat, mit dem er die Wände seines Zwicks schmücken kann. Uli Salm ist selbst Musiker (der Bassist und der Kopf von "Rudolf Rock und die Schocker") und ein leidenschaftlicher Sammler. Die Zahl seiner Rockgitarren, die er aus aller Welt zusammengetragen hat, ist so groß wie die Zahl der berühmten Namen, die in der Gästeliste des Zwicks verewigt sind: Von der Hamburger Szene mit Otto, Westernhagen und Lindenberg, die in den frühen 70ern gleich nebenan wohnten, bis hin zu AC/DC, Jimmy Hendrix, Eric Clapton, Bon Jovi, Rod Stewart, Elton John, Paul McCartney, Pink, Hugh Grant ...

Namen, um die sich auch viele promilleschwere Anekdoten ranken. Aber im Zwick war man schon immer diskret, und im Laufe der Zeit werden manche Geschichten auch nicht unbedingt wahrer, und so will ich hier nur eine Geschichte erzählen, die ich persönlich erlebt habe:

Heiner Lauterbach war eigentlich nur zum Skatspielen ins Zwick gekommen. Nach zwei Stunden hatte er Mühe, die Karten zu halten, und immer wieder machte er einen neuen Anlauf, um seinen Mitspielern zu erzählen, dass er am Vortage für die Hauptrolle für die Verfilmung des Lebens von Axel Springer gecastet worden war.

Soweit das seiner schweren Zunge zu entnehmen war, hatte er sich für das Casting gründlich vorbereitet und dafür auch ein Lieblingsgedicht Springers gelernt, das Gedicht "Der Panther".

Ich werde es nie vergessen: Lauterbach stand auf, schwankte keinen Millimeter mehr und begann mit einer Inbrunst und Klarheit zu rezitieren:

"Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, daß er nichts mehr hält.

Ihm ist, als ob es Tausend Stäbe gäbe und hinter Tausend Stäben keine Welt."

Alle applaudierten. Ergriffen, mit Gänsehaut auf den Armen. Und Lauterbach sackte auf seinem Stuhl zusammen, legte den Kopf auf die Tischplatte - und war eingeschlafen.

Lauterbach lebt inzwischen gesund, isst morgens Müsli und joggt. Auch "Wolle" ist nicht mehr im Zwick. So viele durchfeierte Nächte hält auch "Das Tier", wie er sich nannte, auf Dauer nicht aus. Als er 2003 wegging, glaubten viele, dass die wilden Zwick-Zeiten nun endgültig vorbei seien.

Doch das Zwick lebt. Jünger denn je. Von 18 bis 80. Zwischen den alten Stammgästen drängeln sich inzwischen ihre Söhne, Töchter und Enkel. Auch mein Sohn kratzt schon an der Tür.

Ich kenne keinen Laden auf der Welt, wo sich Alt und Jung so fröhlich und ausgelassen die Kante geben, und ich werde oft gefragt, woran das nur liegt, was das Geheimnis dieser Kneipe ist.

Die Antwort ist simpel: Das Zwick hat sich nie einem Trend unterworfen. Es blieb immer das, was es von Anfang an war. Oder mit den Worten der Rolling Stones zu sprechen: "It's only Rock 'n' Roll - but i like it."