Jan Hinnerk Mahler, Enkel von Heidi Kabel und Rechtsanwalt in Hamburg, über die vielleicht größte Hamburger Volksschauspielerin.

Hamburg. Als Kind fand ich es immer erstaunlich, dass fast jeder dich zu kennen schien. Wir haben dich oft im Ohnsorg-Theater besucht und sind in der Pause immer an der Feuerleiter zu deiner Garderobe hochgeklettert. Familienfeiern wurden stets danach geplant, wann Proben oder Vorstellungen stattfanden. Ich erinnere mich an Kindergeburtstage, bei denen es schon um zwei Uhr mittags Kaffee und Kuchen gab, weil du danach eine Vorstellung im Theater geben musstest. Gestört hat mich das nie, es war eben so. Du hast immer versucht, deinen Beruf und deine Familie unter einen Hut zu bringen.

Du hast diesen Spagat gemeistert. Es war dir immer wichtig, die wenige Zeit, die man hat, sinnvoll zu verbringen. Dein Beruf und die Arbeit und der Austausch mit jüngeren Kollegen haben dich jung gehalten. Du hattest immer ein offenes Ohr für Probleme und stets gute Ratschläge. Ich hatte immer das Gefühl, mit einer Freundin zu sprechen, denn du hast mir immer Mut gemacht, meinen eigenen Weg zu gehen. Immer hast du versucht, die Welt ein wenig besser zu machen für diejenigen, die schwach sind und Hilfe brauchen.

Vor allem das Wohl der Kinder liegt dir am Herzen. Wenn du Kinder siehst, blühst du auf und wirst fast selbst wieder zum Kind. So richtig kann ich das erst verstehen, seitdem ich selbst Vater bin.

Nun wirst du 95 Jahre alt. Fast ein Jahrhundert. Was für eine lange Zeit. Was hast du alles erlebt. Das Leben war nicht immer rosig - und wenn ich auf dein langes Leben und vor allem die ersten, harten Jahrzehnte blicke, dann kann ich nur sagen: Es ist toll Oma, dass Du bei alledem immer so grenzenlos optimistisch und so voller Lebensfreude warst.

Geboren wurdest du am 27. August 1914, dem Monat, in dem, nach 43 Jahren Frieden, der Erste Weltkrieg ausbrach. In den Kriegswintern hast du gefroren und gehungert. Keine idealen Bedingungen für ein kleines Mädchen. Der Kaiser dankte ab, und die Weimarer Republik wurde gegründet.

Doch bis 1923 verbesserte sich die Lage nur wenig. Politisch blieben die Zeiten unsicher. Angriffe auf die Republik kamen sowohl aus dem linken als auch aus dem rechten Lager. Aus der Inflation, die in den letzen Kriegsjahren begann, wurde eine Hyperinflation. Ein Dollar war Milliarden von Mark wert. Das Kapital der deutschen Sparer wurde durch die Hyperinflation zunichte gemacht.

Du warst also gerade zehn Jahre alt geworden, als mit den "Goldenen Zwanzigern" das erste Mal in deinem Leben eine relativ stabile politische und wirtschaftliche Phase begann. Sie dauerte jedoch nur kurz, bis 1929, als die Weltwirtschaft in die große Finanzkrise rutschte. Mit der Finanzkrise kam auch die Weimarer Republik ins Wanken, und die Nationalsozialisten erhielten starken Zulauf.

Als Anfang 1933 Adolf Hitler in Deutschland an die Macht kam, warst du 18 Jahre alt und hattest bereits Zeiten erlebt, die einem die Haare zu Berge stehen lassen konnten. Trotzdem hattest du eine glückliche Kindheit. Deinem Optimismus und deiner unbändigen Lebensfreude konnten die Ereignisse jedenfalls nichts anhaben.

Eigentlich wolltest du Konzertpianistin werden und hattest schon sei Jahren täglich stundenlang geübt. Nachdem du aber eine Freundin, die gerne Schauspielerin werden wollte, 1932 zum Vorsprechen an der Niederdeutschen Bühne begleitet hattest und dort zunächst als Souffleuse ausgeholfen hattest, bemerktest du: "Theater ist eigentlich etwas Wunderbares." Der Theater-Virus hatte dich infiziert, und du nahmst selbst Schauspielunterricht.

Am Theater lerntest du auch deinen Mann - und meinen Opa - Hans Mahler kennen und hast dich in ihn verliebt. Am 17. April 1937 habt ihr geheiratet, im Januar 1938 wurde euer erstes Kind geboren, im Mai 1942 das zweite. Seit am 1. September 1939 deutsche Soldaten in Polen einmarschiert waren, herrschte wieder Krieg. Wieder wurden die Nahrungsmittel knapp. Bomben gingen auf Hamburg nieder.

Zu der ständigen Sorge, deine Kinder satt zu bekommen, kam nun auch noch die Lebensgefahr durch Fliegerbomben. Schrecklich die Vorstellung, wie du mit deinen beiden Söhnen in Luftschutzräumen untergekrochen bist und nach den Angriffen den Weg durch die Trümmer nach Hause suchen musstest. Richtig schlimm wurde es, als 1943 die Flächenbombardements auf Hamburg begannen und große Teile der Stadt in Schutt und Asche legten. Glücklicherweise habt ihr die schwersten Bombardierungen, die im Sommer 1943 stattfanden, nicht in Hamburg selbst miterlebt. Ihr wart im Ferienhaus in Weihe, du warst mit deinem dritten Kind, deiner Tochter Heidi, schwanger. Sie wurde im Januar 1944 geboren.

Der Frieden kam am 3. Mai 1945 nach Hamburg, als die Stadt an die Briten übergeben wurde. Doch auch die folgenden Jahre waren noch schwer. Mit Tingeltouren durch Schleswig-Holstein und Niedersachsen, bei denen dem Publikum ein buntes Programm aus Operetten, plattdeutschen und Hamburger Geschichten geboten wurde und die mit Naturalien entlohnt wurden, hast du deine Familie durch die harte Nachkriegszeit gebracht.

Mit der ersten Fernsehübertragung 1954 wuchs dein Publikum über die Grenzen Hamburgs hinaus. Die Übertragungen aus dem Ohnsorg-Theater wurden zu echten Straßenfegern. Die Annahme des Bundesverdienstkreuzes hast du als echte Hanseatin abgelehnt.

Wenn ich heute über dein langes Leben nachdenke und sehe, was du erlebt und was du erreicht hast, wie du immer alles mit Humor, aber auch mit deiner eisernen Disziplin gemeistert hast, dann bist du vor allem eines für mich: ein Vorbild.