Zehn Psychologen versuchen, rund 160 Schwerverbrecher zu befähigen, nach der Entlassung ein gutes Leben zu führen. Das kann Jahre dauern. Eine Reportage über den Alltag in der Sozialtherapeutischen Anstalt Fuhlsbüttel.

Uwe Schneider ist ein Gentleman-Räuber. Das war jedenfalls sein Selbstverständnis. Dazu gehörte es, in ein Haus einzubrechen und einer Frau eine Pistole an den Kopf zu halten, bis sie ihr Geld aushändigte. „Ich habe meine Opfer immer manierlich behandelt, sie nicht geschlagen und nicht geknebelt“, sagt er. Und schaut dabei ein wenig unsicher.

Sein Opfer hat auch viele Jahre nach Schneiders Angriff noch regelmäßig Angstattacken; sie nimmt seit dem Tag der Tat Beruhigungstabletten. Die Frau lebt nach wie vor in ihrem Haus, aber ein Zuhause, das ist es nicht mehr.

Uwe Schneider (Name geändert) lebt jetzt auf zwölf Quadratmetern. Als Zuhause würde er seine Gefängniszelle nicht beschreiben. Und das mit dem Gentleman-Räuber, das sieht er inzwischen auch anders. Sagt er jedenfalls. „Heute weiß ich, was ich ihr angetan habe – dass die Frau Todesangst hatte.“

Santa Fu gleich nebenan - aber eine andere Welt

Seine Zelle steht in Fuhlsbüttel. Aber nicht im Haus II der Justizvollzugsanstalt, wo die sogenannten schweren Jungs sitzen, sondern in Haus IV. Vor fünf Jahren ist in diesen alten Backsteinbauten die Sozialtherapeutische Anstalt Hamburg (SH) neu gegründet worden. Auch wenn sich diese mit der als Santa Fu bekannten JVA das alte Gefängnisareal in Fuhlsbüttel teilt, sind beide Anstalten eigenständige Einrichtungen. Und es werden reichlich Ressentiments gepflegt – sowohl beim Personal als auch bei den Gefangenen.

Die Häftlinge im Haus IV sind auf sechs Stationen verteilt. Von sechs bis 18.30 Uhr stehen die Türen der Zellen offen. Die langen Flure mit Grünpflanzen, zitronengelben Wänden und Bildern vom Meer haben eher Jugendherbergs-Charakter, als dass sie an Gefängnis erinnern. An der Wand hängt ein Info-Plakat mit dem Titel „Ihre Möglichkeiten der Freizeitgestaltung“. Montags wird zum Beispiel ein „Rückenfit“-Kurs angeboten, freitags trifft sich die Musikgruppe. Im Gemeinschaftswohnzimmer mit rotem Sofa zocken Häftlinge auf einem Flatscreen an der Playstation. Ein Insasse telefoniert im Gang. Jeder Häftling hat ein Telefonkonto und darf bis zu 25 Nummern beantragen. Zudem hat jede Station eine Küchenecke. Statt eines großen Kühlschranks gibt es hier kleine abschließbare Kühlschrankfächer. So manche Studenten-WG würde sich so etwas wünschen.

Auch hier, hinter schweren Gittern und Stacheldraht, ist von Wohngruppen die Rede. 120 Häftlinge leben in diesen Gruppen. 55 Prozent davon sind Sexualstraftäter, die zu mindestens zwei Jahren Haft verurteilt worden sind: Sie haben Frauen vergewaltigt, Kinder missbraucht oder andere schreckliche Dinge getan. Die anderen Männer haben Gewaltstraftaten begangen – es sind Schläger, Geiselnehmer, Mörder.

Uwe Schneider ist Wiederholungstäter. Der heute 53-jährige Mann saß schon in den 80er-Jahren für vier Jahre im Knast. Viel erzählen will er nicht über sich. Nur so viel: Früher war er Lkw-Fahrer. Frau und Kinder hat er nicht. 2008 stand er wieder vor einem Richter. Seine Verbrechen: Einbruch, Diebstahl und schwerer Raub. Dieses Mal muss er länger hinter Gitter. Viel länger. Das Ende seiner Freiheitsstrafe ist offiziell im Jahr 2022. „Aber ich hoffe, dass ich früher rauskomme“, sagt er. Das hofft jeder hier.

Elfeinhalb Stunden am Tag unter Verschluss

Seit knapp vier Jahren ist Schneider in der SH. Elfeinhalb Stunden am Tag ist er in seiner Zelle auf Station A3 eingeschlossen. Um 4 Uhr morgens steht er auf, anziehen, Kaffee trinken. „Um 5 fange ich in der Küche an“, sagt er. Um 11 Uhr hat Schneider Feierabend, isst zu Mittag. Und dann? „Erst mal Mittagsschlaf“, sagt der Mann mit dem grau melierten Dreitagebart und lacht. Schneider hat ein freundliches, angenehmes Lachen. Und er kann über sich selbst lachen. Dabei zeichnen sich viele kleine Falten um Augen und Mund ab. Wenn er sich in seiner Kapuzenjacke, den Jeans und Birkenstock-Schlappen auf sein schmales Bett lümmelt und eine Zigarette dreht, könnte er auch als harmloser Alt-68er durchgehen. Dem Klischee eines skrupellosen Räubers entspricht er zumindest nicht.

Zwei Stunden pro Woche hat Uwe Schneider Einzelgespräche mit einer Psychologin. Diese sind ebenso wie die Gruppen-Therapiesitzungen fest im Alltag der Häftlinge verankert. „Am Anfang dachte ich: Was soll der Quatsch?“, erinnert er sich. Inzwischen hat er gelernt, sich in seine Opfer hineinzuversetzen und seine Taten nicht mehr zu beschönigen. Sagt er. Scheider spricht von einem Umdenken und blickt sein Gegenüber dabei ernst an.

Sexual- und Gewaltstraftäter sind hier gemeinsam untergebracht. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Im normalen Gefängnis gilt die Mischung als höchst explosiv: Sexualstraftäter stehen auf der untersten Stufe der Häftlingshierarchie. Es kommt regelmäßig vor, dass sie unter der Dusche „auf der Seife“ ausrutschen. In der Sozialtherapeutischen Anstalt sind Übergriffe auf Männer, die Schutzbefohlene missbraucht haben, Ausnahme statt Regel. Dass die Männer auch in den Gruppentherapien regelmäßig aufeinandertreffen, gehört hier zum Konzept.

„Am Ende verstehen die Häftlinge, dass jeder sein Päckchen zu tragen hat und jeder hier gleich zu behandeln ist“, sagt Anstaltsleiterin Friederike Klose. Denken die Gefangenen wirklich so? Offen widersprechen würde ihr zumindest niemand.

Es ist ein unerschütterlicher Idealismus, der Friederike Klose in ihrem Job anzutreiben scheint. Ein naives Menschenbild hat sie jedoch nicht. „Es gibt Menschen, die so gestört sind, dass wir sie nicht therapieren können“, sagt die Juristin, die seit 15 Jahren Gefängnisse leitet. Es sind Menschen, denen Psychologen nicht weiterhelfen können. Täter, die mit großer Wahrscheinlichkeit eine große Gefahr für die Gesellschaft bleiben.

Friederike Klose, 49, ist eine zierliche, patente Frau mit frechem Pagenschnitt und rot lackierten Fingernägeln. Viele würden sie für eine Karrierefrau halten, vielleicht in der Werbebranche, aber niemand für die Chefin einer Haftanstalt. Doch sie sagt unglaubliche Sätze wie diesen: „Ich habe schon als Studentin mein Herz an den Strafvollzug verloren.“ Klose ist überzeugt, dass reines „Wegschließen von Straftätern nichts bringt“. Sie spricht von einer gesellschaftlichen Verantwortung. Dass auch diejenigen befähigt werden müssten, draußen ein selbstbestimmtes Leben zu führen, die anderen Schaden zugefügt haben. Und dann wird Kloses Stimme eindringlich: „Ziel ist es, den Häftlingen beizubringen, mit ihren Defiziten umzugehen.“ Und das letztliche Ziel? „Dass sie ein gutes Leben führen.“ Das bedeutet vor allem, dass es keine Opfer mehr gibt.

Im Anstaltsalltag heißt das: Einzel- und Gruppentherapie. „Die Gruppe stellt eine Art Gesellschaft dar“, sagt Regina Rousseau. Seit neun Jahren arbeitet die Psychologin in der Anstalt. „Die Häftlinge geben sich gegenseitig Rückmeldungen, die häufig viel wertvoller und wirkungsvoller sind, als wenn sie von mir kämen.“ Die Frage etwa „Was hast du dir bei deiner Tat gedacht?“ rege den Straftäter eher zum Nachdenken an, wenn diese von einem Mitgefangenen komme, sagt sie. Auch wenn die Formulierung im Knast sicherlich deutlich krasser ausfällt.

Klingt ganz einfach. Als laufe es recht harmonisch zwischen den Männern ab. Trotz der heiklen Mischung. Ganz so ist es aber nicht, räumt Rousseau ein. Das Bedürfnis, nach unten zu treten, taucht auch hier immer wieder auf. „Ich habe erlebt, wie selbst in einer scheinbar homogenen Gruppe von Tätern, die wegen sexuellen Missbrauchs im Gefängnis sitzen, eine Rangordnung aufgemacht worden ist“, erinnert sich die 51-Jährige. Die Häftlinge streiten tatsächlich darüber, ob es schlimmer sei, kleine Jungen oder kleine Mädchen zu missbrauchen. Weil jeder Mensch offenbar jemanden braucht, der noch schlimmer ist als er selbst.

Regina Rousseau ist eine von zehn Psychologen – es gibt auch noch zwei männliche Kollegen –, die in der Sozialtherapeutischen Anstalt und der dazugehörigen Außenstelle in Bergedorf tätig sind. Insgesamt kümmern sie sich maximal um 163 Männer zwischen 21 und 63 Jahren. Im Durchschnitt muss jeder Psychologe also etwa 16 Häftlinge betreuen. Der „Arbeitskreis Sozialtherapeutische Anstalten im Justizvollzug“ empfiehlt einen Betreuungsschlüssel von 1:10. Zum Vergleich: Im normalen Vollzug ist laut Hamburger Justizbehörde ein Psychologe für rund 200 Häftlinge zuständig.

In Santa Fu sitzen Menschen ihre Strafe weitgehend nur ab. In der Anstalt nebenan sollen sie therapiert werden, bis sie möglichst keine Gefahr mehr für die Gesellschaft sind. Deshalb spielen die Sitzungen mit den Psychologen im eng durchgetakteten Alltag der Häftlinge die wichtigste Rolle. Morgens um sechs Uhr werden die Zellentüren aufgeschlossen. Es besteht Arbeitspflicht. Fast jeder Häftling ist in den Betrieben und Werkstätten des Gefängnisses tätig. Ein- bis dreimal die Woche müssen die Männer jeweils für 50 Minuten zur Einzeltherapie und für anderthalb bis drei Stunden zur Gruppentherapie. Etwa zwei Stunden am Tag haben die Täter Freizeit: Sie können einen Computer- oder Englischkurs besuchen, im Fitnessraum trainieren, Fußball spielen oder im Kirchenchor singen. Doch viele nutzen die Zeit auch einfach zum Klönen – oder Nichtstun. Freitags ist Einkaufstag im anstaltseigenen Supermarkt im Keller, einmal die Woche für eindreiviertel Stunden Besuchstag. Um 18.30 Uhr muss jeder Gefangene in seine Zelle. Einschluss.

Besuchstag der Höhepunkt der Woche

Für Uwe Schneider ist der Besuchstag der Höhepunkt der Woche. Wie für die meisten Häftlinge. „Meine Schwester kommt häufig vorbei. Und Freunde von früher“, sagt er. Er nennt es eine willkommene Abwechslung. „Hier sieht man immer dieselben Leute. Und hört immer dieselben Geschichten von ungerechter Verurteilung. Das nervt manchmal ganz schön.“

Schneider ist froh, dass er nicht in Santa Fu sitzt. „Hier habe ich mehr Freiheiten, auch bei der Gestaltung meiner Zelle“, sagt er und deutet auf seine Wände. Dort hängen selbst gemalte, farbenfrohe Bilder, die ihm ein Mithäftling zum Abschied geschenkt hat. Ein Bürokalender. Ein Poster der Reggae-Ikone Bob Marley. Daneben sind Regale mit Büchern und Nachrichtenmagazinen befestigt. Vor dem Gitterfenster hängen weinrote Gardinen, auf dem Boden liegt ein Blümchenteppich. Wäre es keine Gefängniszelle, würde man den Raum wohl gemütlich nennen.

Der größte Unterschied zu drüben sei das Freundliche in der Sozialtherapeutischen Anstalt, sagt Uwe Schneider. „Drüben“, damit meint er das Haus II der JVA Fuhlsbüttel, in dem überwiegend Freiheitsstrafen von mehr als vier Jahren verbüßt werden. Auch er war dort zunächst untergebracht. „Drüben ist wirklich Knast. Eine Maschinerie“, sagt er. „Hier sind die Leute freundlicher. Die Atmosphäre auch.“ Dass es mehr Freizeit gibt, sei auch ein Vorteil. Schneider ist am liebsten im Gefängnisgarten. Früher hatte er mit Gärten nichts am Hut. Heute pflanzt er, gießt Blumen und zupft Unkraut. „Damit kann ich mich gut ablenken“, sagt er.

Einen guten Ruf hat die Anstalt bei den Häftlingen drüben im Gefängnis nicht. „Viele Leute nennen das hier die Erdbeerstation“, sagt Schneider. Auch der Ausdruck „Toyota Farm“ wird gerne verwendet, angelehnt an den Werbeslogan „Nichts ist unmöglich“. Der Grund: Vieles, was im normalen Vollzug undenkbar wäre, ist in der SH möglich. Etwa das gemeinsame Fußballspielen in der Jugendvollzugsanstalt Hahnöfersand, was einen erheblichen personellen Aufwand bedeutet. Oder das Kuchenbacken eines Insassen für seine Wohngruppe, der sich „nicht gemeinschaftsverträglich“ verhalten hat.

„Die Leute von drüben wollen nicht hierher, weil sie Angst haben“, sagt Uwe Schneider. „Sie sitzen lieber ein paar Jahre länger, als hier Therapie zu machen.“ Viele Häftlinge scheuen sich, mit ihrer Straftat konfrontiert zu werden. „So eben gemacht ist das auch nicht“, gibt er zu. Im Gegenteil. „Da sitzen zehn Leute und hören dir zu, während du die Hosen runterlässt.“ Das ist auch dem ansonsten redseligen Schneider schwergefallen. Ja, er sei ein „bisschen stolz“, dass er die Therapie durchzieht. Was andere sagen, ist ihm egal. Sagt er.

Beliebt sind die Plätze in Friederike Kloses Gefängnis in der Tat nicht. Das kann die 49-Jährige bestätigen. „Die JVA ist oft der leichtere Weg, weil sie sich dort nicht so intensiv mit der Tat auseinandersetzen müssen“, sagt sie. Es ist ein Grund, warum hier einige scheitern. Sexualstraftäter mit einer Haftstrafe von mehr als zwei Jahren kommen automatisch aus der Untersuchungshaft hierher. Aber nicht alle wollen sich auf die Therapie einlassen. Die Konsequenz ist naheliegend: Wer nicht mitmacht, kommt in die Nachbaranstalt, in den normalen Vollzug. Die „Rückführungsquote“ bei den Sexualstraftätern liegt bei 15 Prozent.

Die, die ins „normale“ Gefängnis verlegt werden, lassen meistens kein gutes Haar am sozialtherapeutischen Vollzug. Klassische Aussagen der Therapie-Verweigerer: „Die Psychologen schreiben einen tot“ oder: „Die Psychologen hängen einem schreckliche Diagnosen an.“ Auch beim Personal genießt die SH nicht den besten Ruf. „Wir müssen uns oft rechtfertigen für unsere Arbeit“, sagt Klose. „Wir seien zu weichherzig, zu nah an den Gefangenen dran und arbeiteten zu personalintensiv.“ Immer wieder hört sie diese Vorwürfe. Zweifel am Erfolg hat sie jedoch nicht. Im Gegenteil: Wenn es nach ihr ginge, sollten sogar alle rund 76.000 Gefangenen in Deutschland sozialtherapeutisch begleitet werden. In Wirklichkeit gibt es aber nur knapp 2400 Haftplätze. Der Grund ist einfach: Es ist zu teuer.

Tageskosten: 160 Euro

Nach Angaben der Justizbehörde beträgt der Tageshaftkostensatz im normalen Vollzug rund 160 Euro, im sozialtherapeutischen Vollzug sind es 176 Euro. Bei 120 Gefangenen sind das im Jahr immerhin rund 700.000 Euro an Mehrkosten. Zustande kommen diese in erster Linie durch die Personalkosten für die vergleichsweise hohe Zahl an Psychologen. Gleichzeitig sind jedoch die Rückfallquoten nach dem sozialtherapeutischen Vollzug wesentlich geringer als nach dem Regelvollzug.

Unter Experten ist der Erfolg der Sozialtherapie bei Gefangenen weltweit unstrittig. Ausländische Studien sind zu dem Ergebnis gekommen, dass therapierte Sexualstraftäter mit rund zehn Prozent eine zur Hälfte niedrigere Rückfälligkeit aufweisen als nicht therapierte Täter. In Deutschland sind die Werte noch besser. „Während die Rückfallquote bei behandelten Sexualstraftätern zwischen sechs und zehn Prozent liegt, beträgt sie bei den nicht therapierten Tätern bis zu 36 Prozent“, sagt Dahlnym Yoon. Die 30-jährige Wissenschaftlerin arbeitet am Projekt „Evaluation der Sozialtherapeutischen Anstalt Hamburg“ des Instituts für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie am UKE mit, das sich mit der Rückfälligkeit von Straftätern befasst.

Die Zahlen allein sind jedoch nicht der Grund dafür, dass Friederike Klose ihren eher ungewöhnlichen Job ausübt. „Diese Arbeit ist so reich, so spannend, so essenziell – das ist meins.“ Elf schwere Stahl- und Gittertüren muss sie auf- und wieder zuschließen, bevor die Anstaltschefin ihr Büro erreicht. Jeden Tag ist sie mit Schwerverbrechern konfrontiert, muss in Abgründe schauen. Nur die wenigsten Menschen können sich wohl für diese Arbeit begeistern. „Voraussetzung für diesen Job ist, dass man Menschen mag und sich für sie interessiert, auch wenn sie schreckliche Sachen gemacht haben“, sagt sie.

Den Gefangenen auf Augenhöhe zu begegnen – das ist auch für die Psychologen eine wichtige Voraussetzung, um hier arbeiten zu können. „Wenn wir die Akten lesen, sind wir häufig auch geschockt“, räumt Dorothea Schlegel ein. Seit zwei Jahren arbeitet sie in der Einrichtung. Aber im Kontakt mit den Tätern setze etwas anderes ein. „Wir sehen ihn als Menschen und sehen auch die positiven Seiten, die er mitbringt.“ In der Therapie geht es zunächst um einen Vertrauensaufbau. „Beziehungsarbeit steht am Anfang jeder Therapie“, sagt Schlegel. Bis sich ein Häftling öffnet, dauert es Wochen bis Monate. Zu Anfang geht es in jeder Therapie zunächst um die Biografie, angefangen bei der Geburt. „Bei fast jedem Häftling gibt es Bindungsprobleme in der Kindheit und Gewalterfahrungen oder sexuellen Missbrauch“, sagt die 54-Jährige. Bei Uwe Schneider sind es die früh gestorbene Mutter und der saufende Vater.

Die schwere Kindheit? Die Beziehungsarbeit? Das Gute im Menschen? Dorothea Schlegel tritt allen Klischees rigoros entgegen. „Natürlich sind grausame Taten nicht mit einer schweren Kindheit zu entschuldigen“, sagt sie. „Und natürlich werden nicht alle Menschen straffällig, die eine schwere Kindheit hatten.“ Es gehe vielmehr um „Ursachenforschung“, wie die Psychologin es nennt. „Und dabei spielt es eben eine Rolle, dass viele Gefangene selbst schon mal Opfer geworden sind.“ Voller Überzeugung vertritt sie die Ansicht, dass jeder das Recht hat, das Angebot zu bekommen, sich zu ändern. „Und da die meisten Straftäter irgendwann in die Freiheit entlassen werden, betreiben wir mit der Täterarbeit Opferschutz.“

Immer wieder geraten die Psychologen aber auch an Grenzen. Anstaltsleiterin Klose nennt ein Beispiel: „Einer unserer Häftlinge hat seine Tochter missbraucht. Trotzdem wollte die junge Frau ihren Vater besuchen.“ Den Kontakt zwischen Opfer und Täter verhindern konnte Klose nicht. Jedoch gab es für das Treffen zwischen Vater und Tochter besondere Rahmenbedingungen. „Der Besuch fand anders als üblich in einem Einzelraum statt und in Anwesenheit von zwei Mitarbeitern, darunter eine Psychologin“, sagt die Gefängnischefin. Glücklicherweise sei diese „Begleitung“ von den Beteiligten akzeptiert worden. „Offenbar lag der Tochter daran, ihrem Vater selbstbewusst gegenüberzutreten und ihm zu demonstrieren, dass sie ihr Leben im Griff hat.“ Danach hat die junge Frau ihren Peiniger nie wieder aufgesucht.

Wann dieser Vater und die anderen Insassen wieder in Freiheit leben dürfen, bestimmt nicht Friederike Klose, sondern ein Gericht – die Anstaltsleiterin entscheidet lediglich über Lockerungsschritte, ob ein Häftling etwa die Anstalt für ein paar Stunden in Begleitung verlassen darf. Jedoch schreibt Klose auch Stellungnahmen, die der Richter als Basis für seine Entscheidung nutzt. „Eine solche Sozialprognose zu erstellen ist eine große Verantwortung“, sagt sie. Eine Verantwortung, bei der es um Menschenleben gehen kann.

Bisher lag Klose mit diesen Einschätzungen noch nie daneben. Anders als eine ihrer Kolleginnen vor einigen Jahren. Die schrieb eine positive Empfehlung zu einem Häftling. Er wurde entlassen und vergewaltigte kurz darauf eine Frau. „Zum Glück ist mir so etwas noch nie passiert“, sagt Klose. Und wenn es passieren würde? „Das wäre sicher sehr schwierig für mich.“ Ob sie danach überhaupt weiterarbeiten könnte, weiß sie nicht. „Neben der fachlichen Einschätzung meiner Mitarbeiter ist es jedes Mal auch eine Bauchentscheidung mit dem Gefühl ‚Es wird gut gehen‘“, sagt sie. Dass ein Häftling das System der Anstalt bewusst hintergehen und den Mitarbeitern etwas vormachen kann, schließt sie jedoch aus. „Dafür sind die Häftlinge zu lange bei uns und wir zu erfahren.“ Sicher? „Ganz sicher.“

Gelockerter Vollzug in der Außenstelle Bergedorf

Im gelockerten Vollzug in der Außenstelle in Bergedorf werden die Häftlinge auf das Leben nach dem Knast vorbereitet. Einen Fahrkartenautomaten bei Bedarf bedienen zu können gehört genauso dazu, wie eine Wohnung und eine Arbeitsstelle zu finden. Auf dem ersten Arbeitsmarkt ist das meistens schwierig bis unmöglich. Besonders für Sexualstraftäter. „Deshalb arbeiten wir mit Zeitarbeitsfirmen zusammen“, sagt Friederike Klose. Diese wissen zwar über die Vergangenheit des Ex-Häftlings Bescheid, die Firma, an die derjenige vermittelt wird, jedoch nicht. Eine Arbeit zu haben ist für den ehemaligen Gefangenen eine wichtige Stütze in seinem neuen Leben. Eine weitere bietet die Nachbetreuung. „Unsere Häftlinge werden noch mindestens zwei Jahre nach ihrer Entlassung psychologisch begleitet“, sagt sie.

Uwe Schneider ist zuversichtlich, dass er 2015 nach Bergedorf in den gelockerten Vollzug darf. Seine Gruppentherapie hat er nach 14 Monaten erfolgreich abgeschlossen. Und wie stellt er sich das Leben in Freiheit vor? Erst mal eine Wohnung und Arbeit finden, sagt er. „Ich würde gerne wieder in der Küche arbeiten, wie hier im Gefängnis.“ Hier hat er auch eine Ausbildung zur Fachkraft im Gastgewerbe erfolgreich abgeschlossen. „Ich gehe aber auch zur Müllabfuhr, das ist mir eigentlich wurscht.“ Wieder lacht er und zuckt mit den Schultern. Auch auf die Dinge, die er jetzt besonders vermisst, freut er sich: mit Freunden unterwegs sein, Spaß haben. Früher hat Schneider gerne Festivals besucht, wie das Heavy-Metal-Open-Air in Wacken. „Ich bin auch viel gereist.“ Südeuropa, Thailand, Karibik, Südamerika: Der Mann mit dem schütter werdenden Haar ist viel rumgekommen auf der Welt – und er will es wieder tun.

In Angst, in Freiheit wieder rückfällig zu werden

Angst, in Freiheit wieder rückfällig zu werden, hat er nicht. Das sagt er immer wieder. Dafür habe er zu lange gesessen. „Dafür ist mir die Freiheit zu wichtig, um das noch mal mitzumachen“, sagt Schneider. Bei der Frau, die er damals mit der Waffe bedroht hat, würde er sich gerne entschuldigen. Er hat einen Brief an sie geschrieben. Darin beteuert er, wie leid ihm alles tut. Doch die Entschuldigung bleibt Theorie. Der Brief wurde nie abgeschickt. Stattdessen hat er den Brief in der Therapiegruppe laut vorgelesen. Die „Opfer-Briefe“ sind fester Bestandteil der Therapie.

Fast alle Täter haben das Bedürfnis, sich beim Opfer zu entschuldigen. Ihren Brief würden sie nur zu gerne abschicken. Doch dazu kommt es grundsätzlich nicht. Weil es den ohnehin traumatisierten Opfern in der Regel noch mehr Schaden zufügen würde. Die Psychologin Regina Rousseau hat vor Jahren den Anwalt eines Opfers kontaktiert, um zu fragen, ob sich der Täter entschuldigen darf. Die Antwort war unmissverständlich: Der Anwalt drohte, die Psychologin zu verklagen, sollte sie den Plan weiter verfolgen.

Viele Straftäter sehnen sich nach nichts mehr als Absolution. Erfüllt wird ihnen dieser Wunsch nicht. Mit der Schuld zu leben ist Teil ihrer Strafe. „Ich verzeihe dir“: Diese Worte hören die Täter aus dem Mund des Opfers nicht. Das ist auch eine Art lebenslänglich.