Jürgen Hogeforster, Vorsitzender des Hanse-Parlaments, arbeitete schon in der Landwirtschaft, für Ministerpräsidenten und als Handwerkskammer-Chef. Und was ist das Nächste? Oliver Schirg über einen Mann, der stets Veränderung sucht – wohl, weil er glaubte, nicht sehr alt zu werden

Mehr als 53 Lebensjahre seien ihm nicht beschieden – davon war Jürgen Hogeforster lange überzeugt. Er hatte in den Büchern des Klosters Kamp-Lintfort die Eintragungen über den Bauernhof seiner Vorfahren seit dem 14. Jahrhundert gelesen. Dabei entdeckte er, dass die meisten seiner männlichen Ahnen bis in die Gegenwart nicht älter als 53 Jahre geworden waren. Auch sein Vater starb kurz nach dem 52. Geburtstag an einer Krankheit; der Großvater war im selben Alter tödlich verunglückt.

Aber bis jetzt ist alles gutgegangen. Hogeforster, ehemals Handwerkskammer-Chef und heute Vorsitzender des Hanse-Parlaments, ist 71 und erfreut sich bester Gesundheit.

Vielleicht aber erklärt seine vermeintlich geringe Lebens-Erwartung seinen Drang zu Veränderungen. Ein „Bauchgefühl“ begleite ihn sein Leben lang und signalisiere ihm regelmäßig: Jetzt ist es wieder Zeit! „Ich habe zwar meistens nicht gewusst, was da Neues kommt, aber ich war bereit, das Alte aufzugeben.“ Angst vor dem Neuen kenne er nicht, sagt Hogeforster und fügt hinzu: „Das mag daran liegen, dass es das Leben gut mit mir meint.“

Der passionierte Pfeifenraucher dürfte vielen Hamburgern noch als Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer in Erinnerung sein. Zwei Jahrzehnte führte er das Amt, bis ihn 2003 wieder mal das Gefühl überkam: Jetzt reicht es. Ich muss etwas anderes machen. Allerdings mit einem Jahr Verzögerung, weil die Suche nach einem Nachfolger sich so lange hinzog.

„Kreativität und einen Hang zur Provokation“ attestierte ihm der damalige Bürgermeister Ole von Beust. Die CDU hätte ihn gern als Mitglied gehabt, doch „Parteidisziplin“ war Hogeforsters Sache nie. „Ich habe in Hannover unter den Ministerpräsidenten Alfred Kubel von der SPD und Ernst Albrecht von der CDU gearbeitet und erlebt, wie Minister nur aus Parteidisziplin heraus Dinge taten, die sie eigentlich für falsch hielten.“ Bei den niedersächsischen Sozialdemokraten galt er als „Kegelgenosse“, weil er zwar an den gemeinsamen Kegelabenden, nicht aber an Parteiversammlungen teilnahm.

Was ihn an- und voran treibt, das nennt Hogeforster „eine Kombination aus Neugier auf die Welt, Willen zur aktiven Zukunftsgestaltung und Streben nach Unabhängigkeit“. Dieses Frei sein wollen, so vermutet er, wurzele in seiner frühen Kindheit. „Ich wurde mit drei Brüdern und einer Schwester im Niederrheinischen auf unserem Bauernhof groß. Unser Vater ließ uns dort alle Freiheiten“, erinnert er sich. Der Hof mit Kühen, Schweinen, Pferden und Hühnern lag idyllisch inmitten von Feldern und Wäldern und hatte eine stattliche Größe. Viele Mägde und Knechte arbeiteten und lebten dort mit ihren Familien. „Wir Kinder waren nie allein und hatten immer einen Ansprechpartner.“

In der Schule fiel dem jungen Jürgen das Lernen leicht, sofern es „etwas mit Anfassen“ zu tun hatte. Das „überintellektualisierte Bildungsideal“ hingegen bereitete ihm Probleme. Folgerichtig verließ er irgendwann das Gymnasium, kehrte auf den elterlichen Hof zurück, lernte ein Jahr lang daheim und eines in der Fremde, was ein Landwirt können muss: pflügen, säen, ernten, Tierhaltung, Fruchtfolge. Aber nicht nur das: Ihm wurde auch klar, dass zur Freiheit (die Schule abzubrechen) auch die Verantwortung (für die Konsequenzen) gehört. Insofern überrascht es nicht, dass Hogeforster der überbordende Individualismus der heutigen Zeit nicht geheuer ist. „Manche reden andauernd von individueller Freiheit – aber sie gehen mit dieser um wie mit einem Kleidungsstück, das ihnen viel zu groß ist“, sagt er.

Er habe, sagt Hogeforster, auch die Erfahrung gemacht, dass sein Verständnis von Freiheit und Verantwortung mit Großunternehmen oder großen staatlichen Verwaltungen nur bedingt zusammenpasse. „Wenn ein Konzernvorstand entscheidet, Mitarbeiter zu entlassen, dann kennen dessen Mitglieder die Betroffenen nicht.“ In einem Handwerksbetrieb oder einem kleinen Unternehmen sei das anders. „Dort weiß der Chef, dass der eine Mitarbeiter eine kranke Frau daheim hat und bei einem anderen die vier Kinder noch in der Ausbildung sind.“ Also werde er erst einmal alles versuchen, auch ohne Entlassungen über die Runden zu kommen.

Seine Auffassung von Verantwortung ist auch der Grund, warum sich der 71-Jährige im Laufe seines Lebens immer wieder „geerdet“ hat. Mit einem Freund gründete er in der Schweiz ein Bauunternehmen. Als Chef der Handwerkskammer „machte ich es mir zur Pflicht, zwei-, dreimal in der Woche Betriebe zu besuchen, um mir aus erster Hand Informationen über deren Alltag zu beschaffen.“ Geerdet haben ihn auch seine Wanderjahre nach der Lehre, erzählt Hogeforster. Er arbeitete auf einem Gut in Schweden und reiste oft in die DDR. 1963 brach er mit einem klapprigen Mercedes 170 in die Sowjetunion auf. Sein Visum galt für drei Monate. Weil er aber vor Ort die richtigen Leute kennenlernte, konnte er ein Jahr bleiben. Was kurioserweise nach seiner Rückkehr dazu führte, dass die Bundeswehr von seiner Einberufung Abstand nahm. „Ein junger Mann, der ein ganzes Jahr unbehelligt durch die Sowjetunion tourte, das war den Verantwortlichen dann doch nicht geheuer“, erzählt Hogeforster schmunzelnd.

Stattdessen studierte er an der Fachhochschule für Landtechnik in Mainz Ingenieurwesen, machte das Abitur nach und schrieb Artikel für die Zeitschrift „Feld und Wald“. Journalist habe er damals werden wollen, erzählt er, und sogar die Aufnahmeprüfung an der Münchner Journalistenschule bestanden. Doch er entschied sich für ein Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaft in Bonn, promovierte 1971 und startete im Planungsstab des niedersächsischen Ministerpräsidenten seine Karriere.

Mitte der 70er-Jahre „juckte“ es ihn wieder und zum Entsetzen seiner künftigen Schwiegereltern, die ihre Tochter an der Seite eines deutschen Spitzenbeamten in wirtschaftlich sicheren Verhältnissen wähnten, wechselte Hogeforster nach Basel zum Beratungsunternehmen Prognos. Dort übernahm er den Bereich Politik, beriet unter anderem Kommunen, Länder- und Bundesministerien, erarbeitete Stadtentwicklungskonzepte, Flächennutzungspläne sowie Gutachten. Damals lernte Hogeforster auch Gerhard Schröder kennen, den er als Vorsitzenden der Jungsozialisten beriet.

1983 war es wieder mal Zeit: Er verließ die Schweiz und kam zur Hamburger Handwerkskammer. Beworben hatte er sich auf eine Stellenanzeige. „Ich habe dann versucht, aus der Kammer ein Dienstleistungsunternehmen zu machen“, erzählt er, „mit mehr als 12.700 Mitgliedsbetrieben als Kunden.“ Mit großem Erfolg: Als Hogeforster 21 Jahre später die Kammer verließ, erwirtschaftete sie ihren jährlichen 20-Millionen-Euro-Etat zu 80 Prozent über den Verkauf von Dienstleistungen und nur noch zu 20 Prozent über Mitgliedsbeiträge.

Heute steht Hogeforster dem Hanse-Parlament vor. Der Verein ist ein machtvoller Zusammenschluss von mehr als 50 Wirtschaftskammern aus dem gesamten Ostseeraum. Er vertritt 475.000 kleinere und mittlere Unternehmen. „Es geht uns darum, die Unternehmen zu vernetzen, zu qualifizieren und ihre Interessen zu bündeln“, sagt er.

Auch wenn Hogeforster inzwischen in Hamburg Wurzeln geschlagen hat und sich längst zur Ruhe setzen könnte, verspürt er noch immer dieses Gefühl: Es ist wieder Zeit. „Irgendetwas könnte es noch sein, aber ich weiß noch nicht was.“ Aber ganz gleich, was der agile 71-Jährige demnächst machen wird, auf seine Ehefrau wird er sich verlassen können. „Sie ist es, die die Familie und den Freundeskreis zusammenhält“, erzählt er. „Sie ist der ruhende Pool, von dem aus ich die Welt erobern konnte.“ Vielleicht ist sie auch einer der Gründe, warum Jürgen Hogeforster sein Leben so leben konnte, wie er es bislang getan hat.

Und er erzählt am Ende noch davon, dass es früher auf dem Land ein „Heimfluchtrecht“ gab. Danach musste der Erbe des Hofes seinen Geschwistern und deren Familien lebenslang das Recht auf Unterkunft und Verpflegung einräumen, wenn diese im Leben alles verlieren würden. „Ich bin mir sicher: Meine Frau und meine Familie sind mein Heimfluchtrecht.“

Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, Besonderes für die Stadt leisten, als Vorbild gelten. Jürgen Hogeforster bekam den Faden von Noah Wunsch und gibt ihn an Sabine Falkenhagen weiter