Mit 17 verließ er sein Dorf in Mali, um seiner Familie zu helfen. Acht Jahre zog er durch West- und Nordafrika, geriet immer wieder in Lebensgefahr. In Hamburg fand er ein neues Zuhause.

Am 17. April 2013 kommt Judith K. um halb eins in der Nacht von einer Reise zu ihrer Wohnung in der Hamburger Innenstadt zurück. Sie parkt ihren Wagen vor dem mehrstöckigen Haus. Es ist stockdunkel und ziemlich kalt. In der Garageneinfahrt pressen sich Afrikaner eng an die Wand. Sieben Leute, null Grad. Sie frieren. Keiner hat eine Mütze auf dem Kopf, einer hat sich in eine Tischdecke eingewickelt. Judith K. erkennt an dem Französisch, das die Männer sprechen, dass sie aus Westafrika kommen.

Sie überlegt einen Moment lang, was sie tun soll. Die Männer ignorieren, in die Wohnung gehen, die Tür zumachen und sich schlafen legen? Oder sie ansprechen? Dann hört sie ein schlimmes Husten.

Sie geht zu der Gruppe und fragt, was los sei. Und ob ihr jemand helfen könne, die Koffer nach oben in die Wohnung zu tragen. Zwei Männer packen sofort mit an. „In ihren Augen lagen Angst und Hoffnung“, sagt sie. „Ich empfand die Situation nie als bedrohlich. Es war so klar, dass die Leute in Not waren.“

Gemeinsam mit ihren beiden Helfern bringt Judith K. den anderen Männern Mützen und Schals, warme Milch, Tee und Hühnersuppe. Einige trinken Leitungswasser. Sie erfährt, dass die Afrikaner seit ein paar Nächten immer ab elf Uhr abends in dieser Einfahrt zusammenkommen.

Das Winternotprogramm der Stadt ist ein paar Tage zuvor beendet worden. Im Pik As nebenan dürfen die Männer nicht mehr übernachten. Judith K. telefoniert mit dem Diakonischen Werk. „Aber die waren wegen des bevorstehenden Kirchentages überlastet.“

Im Wetterbericht sagen sie, es werde kälter in Hamburg. Judith K. hat in dem Haus noch eine kleine Wohnung. Dort arbeitet sie. Sie beschließt, zwei Männern dort für die kommende Nacht ein Obdach anzubieten.

Am nächsten Abend kommen ihre beiden Helfer vom Vortag als Erstes in die Einfahrt. Judith K. erklärt ihnen ihr Angebot und sagt, es gebe aber nur Platz für zwei Personen. Die Afrikaner sollten selbst entscheiden, wer hineindarf. Einer sagt: „Das können wir nicht bestimmen, dann müssen wir alle draußen bleiben.“ Er heißt Adama. Also muss Judith K. die Auswahl treffen – sie nimmt ihre beiden Helfer. Und erklärt den anderen entschuldigend, dass sie nicht mehr Platz habe. Ein älterer Afrikaner lächelt sie an und sagt: „Sie müssen sich doch nicht entschuldigen!“

In der ersten Nacht wird sie um halb zwei aus dem Schlaf gerissen, weil es an der Tür wummert. Drei Polizisten stehen davor. Ob sie wisse, dass sich bei ihr Afrikaner aufhalten. „Ja? Aha, dann kommen Sie mal, Frau K.“

Eine Nachbarin hatte gesehen, dass die Tür der Wohnung offen stand. Sie hatte versucht, Judith K. anzurufen, doch die ist nicht an ihr Handy gegangen. Der Polizist sagt: „Das sind doch zwei von den Afrikanern, die abends immer in der Garageneinfahrt stehen.“ Das seien jetzt ihre Gäste, sagt Judith K. „Das ist toll, dass sie die bei sich aufnehmen“, sagt der Polizist.

Judith K. ist Rechtsanwältin und hat viele Jahre die Hamburger Landesvertretung in Berlin geleitet. Eine resolute Frau, schlank, kurze schwarze Haare. Sie ist oft in Berlin und auch im Ausland unterwegs. Sie bringt es nicht fertig, die Männer wieder in die Kälte zu schicken. Deshalb fragt sie ihre Nachbarin: „Was halten Sie davon, wenn Sie die Männer jetzt jeden Abend zwischen zehn und elf Uhr ins Haus lassen?“ Die Nachbarin sagt zu. „Das hat toll geklappt, sie hat sich rührend gekümmert“, sagt Judith K.

Zwei Monate später gibt sie den beiden Männern einen Schlüssel für die Wohnung. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass die Afrikaner alle verabredeten Regeln einhalten. Die Wohnung ist picobello. „Sie haben das Geschirr abgewaschen und es zum Trocknen in die Spülmaschine gestellt“, sagt Judith K. und lacht. Die Männer, sagt sie, haben sie nie um irgendetwas gebeten.

Später gibt sie ihnen etwas Geld zum Einkaufen. „Vielleicht 25 Euro in der Woche, für beide zusammen.“ Sie erlaubt ihnen, in der kleinen Küche zu kochen. „Am liebsten essen sie Hühnchen.“ Sie richtet ihnen ein Zimmer ein, kauft Regale und einen CD-Player.

Sie reden über Politik und gucken zusammen französisches Fernsehen. Sie verfolgen die Berichte über den Krieg im Norden Malis, der 2012 ausgebrochen ist und vor dem laut Schätzungen bisher eine Viertelmillion Menschen in die Nachbarstaaten geflohen sind. „In Afrika ist immer Krieg“, sagt Adama. Judith K. kauft ein Wörterbuch. Und französische Klassiker. Sie möchte, dass die Afrikaner alle zwei Wochen ein neues Buch lesen. „Hat nicht ganz geklappt“, sagt sie und lacht.

Im Freundeskreis wird Kleidung gesammelt. Jeans, Jacken, Pullover, bunte T-Shirts. Sie zeigt ihnen das Rathaus, sie gehen ins Museum, stöbern in Buchhandlungen und sehen sich Bilder vom völlig zerstörten Hamburg nach dem Zweiten Weltkrieg an. „Die beiden konnten nicht glauben, dass es hier vor 70 Jahren so ausgesehen hat.“

Sie laufen durch die Stadt. „Die gingen so langsam“, sagt Judith K. „Leute“, sagt sie, „hier müsst ihr schneller gehen, in Deutschland müsst ihr ein Ziel haben, wenn ihr geht.“ Sie geht dann immer ein Stück vorneweg. „Wie eine Entenmutter mit ihren Küken.“ Später muss sie nur noch „Entenmutter“ sagen. Dann lachen die beiden und gehen automatisch schneller.

Mit den anderen Bewohnern gibt es keine Probleme. „Aha, unsere Jungs sind da“, heißt es im Treppenhaus. Die Afrikaner kochen öfter für ihre Lieblingsnachbarin. Immer zu viel. Und immer Huhn mit Reis und Soße.

Sie schauen sich zusammen Landkarten an und wandern mit dem Zeigefinger über die Seiten: Wie groß ist Deutschland? Wie groß ist Mali?

Adama ist am 16. März 1982 in Kolomosso geboren. Ein kleines Dorf im Süden Malis, 170 Kilometer östlich der Hauptstadt Bamako gelegen. In Kolomosso leben 182 Familien, sagt Adama. Wie viele Einwohner hat das Dorf? „In manchen Familien leben 20 Menschen, in anderen nur fünf.“ Adama ist der älteste Sohn der ersten Frau seines Vaters. Die zweite nennt er „meine kleine Mutter“. Er hat einen jüngeren Bruder und sieben Schwestern. „Zwei von ihnen sind gestorben“, sagt er.

Im Dorf gibt es keine Elektrizität, aber ein Mobilnetz für Handyempfang. Das Wasser wird aus Brunnen geschöpft, das Licht spenden Lampen, die mit Karitébutter zum Leuchten gebracht werden. Die Butter wird aus der Nuss des Sheabaumes gewonnen und auch zur Hautpflege und als Speisefett benutzt.

Die Häuser sind aus Lehm gebaut. Ein Haus hat meist zwei Zimmer, jeweils etwa 16 Quadratmeter groß. „Die Erde gehört niemandem“, sagt Adama, „jeder baut sein Haus dort, wo genug Platz ist.“ Geschlafen wird auf Unterlagen, die sich die Menschen aus großen Säcken schneiden. Hinter dem Haus steht ein Brunnen. Dort waschen sich die Menschen morgens.

Der Weg zur Schule ins nächste Dorf beträgt sechs Kilometer. Sie haben Mathe und Geschichte, Sport, Musik und Religion. Zu Hause sprechen sie Bambara, eine Mande-Sprache, die fast überall in Mali sowie in Burkina Faso und der Elfenbeinküste verstanden wird. „In der Schule sollten wir aber Französisch sprechen“, sagt Adama. Sobald jemand Bambara spricht, bekommt er vom Lehrer eine drollige Kappe auf den Kopf gesetzt.

Adama wäre gerne länger als sechs Jahre zur Schule gegangen, aber das hat der Vater nicht erlaubt. Der Junge musste, oft auch während der Schulzeit, auf dem Feld helfen. Baumwolle und Mais ernten, Kühe und Ziegen hüten. Mit 15 Jahren ist Adama auch in andere Dörfer gegangen, hat dort gearbeitet und das Geld zu Hause abgeliefert. „Mein Vater ist der Bürgermeister in Kolomosso.“

Hatte Adama eine glückliche Kindheit? Er kann mit der Frage wenig anfangen. „Ich hatte ja Vater und Mutter“, sagt er schließlich. Sonst hatten sie nicht viel. „Es gab nur das Nötigste zu essen.“ Adama hat sich oft geschämt für die Armut. Und dafür, dass er als ältester Sohn nichts daran ändern konnte. Manchmal hatten sie wochenlang nicht einmal Salz. Und bei Festen im Dorf, sagt er, hatten sie nichts Besonderes anzuziehen. „Die Armut war das einzige Problem in meiner Kindheit.“

Judith K. sagt, die Armut sei der wichtigste Grund, warum sich Adama vor 15 Jahren auf den Weg gemacht hat. Von dem er nie wusste, wohin er als Nächstes führt. Auf der Suche nach einem besseren Leben. Getrieben von der Verantwortung, als ältester Sohn der Familie zu helfen. „Du bist mit leeren Händen gegangen, aber mit leeren Händen zurückzukehren, das ist ausgeschlossen“, sagt Adama. Judith K. sagt, neben Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit sei das ausgeprägte Verantwortungsgefühl die hervorstechendste Eigenschaft von Adama.

In Hamburg, erzählt Judith K., sei Adama einmal beim Schwarzfahren erwischt worden. Er musste seinen Namen angeben und als Adresse OFW, „ohne festen Wohnsitz“. Er hätte also später nie ermittelt werden können. Adama ist dann einmal im Monat am vereinbarten Tag mit zehn Euro zur Hochbahn-Wache zum Hühnerposten gegangen – bis er nach vier Monaten seine Schulden abbezahlt hatte.

Mit 17 Jahren geht Adama das erste Mal von zu Hause weg. Heimlich, gegen den Willen des Vaters. Er verlässt morgens um vier das Dorf, um sein Geld bei der Reisernte zu verdienen. Mit Bussen geht es auf geteerten Straßen 200 Kilometer in Richtung Norden. Das Ziel heißt Niono, eine 100.000-Einwohner-Stadt in der Nähe des Niger. Im Mai, dem heißesten Monat, betragen die Temperaturen dort bis zu 40 Grad. „Viele erkranken an Malaria“, sagt Adama.

Er muss auf den Reisfeldern jeden Tag eine Fläche von fünf mal 50 Metern ernten, sonst gibt es kein Geld. Umgerechnet zwei Euro bekommt er dafür. Pro Tag. Nach vier Jahren kehrt Adama in sein Dorf zurück. Und gibt seinem Vater die gesamten Ersparnisse.

Zwei Jahre später macht er sich wieder frühmorgens aus dem Staub. Fährt in die Hauptstadt Bamako und von dort drei Tage durch die Wüste Mauretaniens. Mit Bussen und mit den Tuaregs. Er will nicht mehr auf dem Feld arbeiten. Er will ans Meer. Er landet im August 2005 in der Hauptstadt Nouakchott. Eine Million Einwohner, zweitgrößter Hafen des Wüstenstaates. Nur 30 Prozent der Stadtbevölkerung verfügen über ausreichend Trinkwasser.

Adama mietet sich eine Eselskarre und besorgt sich zwei große Behälter, die er mit Wasser aus den Brunnen füllt. Von sechs Uhr morgens bis spät in den Abend versorgt er Familien und Restaurants mit Trinkwasser. Er kann sich schon bald den Karren samt Esel kaufen. Zwei Wochen später stirbt der Esel. Für Adama bricht eine Welt zusammen.

Er stellt sich an die Straße und fragt die Vorbeikommenden nach einem Job. Er findet Arbeit als Fischer. Sechs Monate lang. „Dann gab es immer mehr Tage, an denen wir nichts fingen.“ Er hilft bei einem reichen Senegalesen in Nouakchott im Haushalt, bis er nach 18 Monaten die schlechte Behandlung durch die Frau nicht mehr aushält.

In Rosso, 200 Kilometer südlich von Nouakchott, gibt es Arbeit auf dem Bau. „Bei den Chinesen.“ Die errichten an der Grenze zum Senegal für 50.000 Einwohner eine moderne Wasserversorgung. Sie arbeiten von sieben bis 18 Uhr. „Wenn du nur Brot isst, kannst du von dem Lohn etwas Geld sparen.“ Sie haben Schutzhelme und Plastikschuhe. Aber es gibt keine Handschuhe. In der gleißenden Sonne werden die Metallstangen kochend heiß. Oft gibt es Verständigungsprobleme mit den chinesischen Arbeitern. Als einer ihm Schläge androht, geht Adama. Er hat sein Gefühl für Würde nicht verloren.

Judith K. sagt, dass Adama ein sehr liebenswerter Mensch sei. Wenn er die Wohnung verlässt, schreibt er ihr oft kleine Nachrichten auf einen Zettel. „Ich gehen Hauptbahnhof. Schönen Tag.“ Abends liegen manchmal Zettel vor ihrer Tür. „Vielen Dank von Paprika und Waffeln. Ich bin sehr glücklich. Schlafen gut.“

Im Frühjahr 2010 besteigen Adama und 20 weitere Männer in der malischen Grenzstadt Tessalit einen kleinen Bus. Sie wollen nach Tamanrasset, die größte Oase im Süden Algeriens, 1400 Meter hoch gelegen am Rande des gewaltigen Ahaggargebirges. Eine Zwei-Tage-Fahrt durch die Wüste. Nach 24 Stunden streikt der Motor. Das Wasser wird knapp. Sie mischen es mit Benzin. Einige fangen an zu beten. Auch Adama ruft nach Gott. „Und nach meiner Mutter.“ Nach zwei Tagen kommt ein Auto und rettet sie vor dem Verdursten.

In Tamanrasset gibt es keine Arbeit. Adama bezahlt 2000 algerische Dinar, umgerechnet knapp 20 Euro, für die Weiterfahrt an die libysche Grenze nach Ghadames. In Libyen, hieß es schon in Mauretanien, kann man gutes Geld verdienen. Der Schlepper, der sie nachts im Laufschritt über die Grenze bringt, verlangt noch einmal 2000 Dinar von jedem. „Wir sollten die Batterie aus dem Handy nehmen, damit es nicht plötzlich laut klingelt.“ Nach zwei Monaten ist die Arbeit auf einer Großbaustelle in Ghadames beendet. Adama beschließt mit anderen, nach Tripolis zu fahren. 600 Kilometer Richtung Norden, zwei Tage versteckt auf der Ladefläche eines Lieferwagens. Kurz vor der Hauptstadt geraten sie in eine Polizeikontrolle. „Wir sind raus aus dem Auto und weggelaufen.“

In Hamburg, sagt Adama, musste er vor niemandem mehr weglaufen. Oft ist er abends noch durch die Stadt gegangen. Hier sei es sogar möglich, sagt er, nachts spazieren zu gehen, ohne Angst haben zu müssen. „In Libyen oder Algerien geht das nicht“, sagt er. In Afrika würden sich viele bei den geringsten Anlässen schlagen. Warum ist das so? „Weil die Menschen so viel Stress haben“, sagt Adama. In Deutschland sei es viel ruhiger, jeder akzeptiere den anderen. „Wenn man jemandem versehentlich auf den Fuß tritt, entschuldigt man sich sofort.“ In Mali werde man schon beleidigt, bevor man sich entschuldigen kann. „Wenn ihr hier ein Problem habt“, sagt Adama, „dann redet ihr darüber.“

In Tripolis geht Adama direkt zur malischen Botschaft. Dort heißt es, es gebe einen Ägypter, der sich um Menschen wie ihn kümmert. Er hat im Zentrum ein Haus. Fünf Etagen, in jeder sind 30 Männer aus Schwarzafrika untergebracht. Sie kommen aus Mali, dem Senegal, Burkina Faso, Guinea. Sie schlafen auf Decken, es gibt Badezimmer und Toiletten. Reihum wird eingekauft und auf einem Gaskocher abends Reis mit Soße zubereitet. Jeder zahlt 20 Dinar Miete im Monat.

An jeder Ecke stehen Leute, die Arbeiter suchen. Adama findet einen Job in einer Cola-Fabrik. Sie werden morgens abgeholt und abends wieder nach Hause gebracht. Ihre Chefs haben Angst, dass die Männer auf der Straße angegriffen werden. „Die Araber mögen keine Schwarzen“, sagt Adama. Er muss jetzt Flaschen sortieren, Kisten schleppen, Kunden beliefern. Acht Stunden am Tag. Am Sonntag haben sie frei.

Es ist Sommer in Tripolis.

Sechs Monate später bricht der Bürgerkrieg aus. Am 17. Februar 2011 gehen die Menschen in Libyen gegen das Gaddafi-Regime auf die Straßen. Am 19. März beginnen die USA, Frankreich und England mit Luftangriffen. Drei Tage später wird die Cola-Fabrik geschlossen.

Auf der Straße wird es für Adama gefährlich. Er sieht zehnjährige Jungen, die plötzlich mit geladenen Waffen herumlaufen. „Liebst du Gaddafi oder nicht?“, fragen ihn die Leute. Jede Antwort kann die falsche sein. Weil in Gaddafis Leibgarde viele Schwarze sind, gilt er als Sympathisant. Dem ägyptischen Vermieter wird die Sache zu heikel, er wirft alle Bewohner aus dem Haus.

Adama muss sich verstecken. Tage voller Todesangst. „Es gab kein Vor und kein Zurück.“ Sie essen Brotreste aus einer Bäckerei. Ein Freund ruft an und sagt, es gebe die Chance, mit dem Schiff zu entkommen. „Ihr müsst weg. Die bringen euch alle um, für die ist jeder Schwarzer ein Gaddafi-Anhänger.“

Ein Mann bringt sie zum Hafen. Am Pier liegen fünf Schiffe. Mehrere Tausend Menschen drängeln sich am Ufer. Libysche Soldaten sorgen mit Elektroschockern dafür, dass niemand aus der Reihe tanzt. Die 800 Dinar für die Fahrt nach Lampedusa, dieser kleinen Mittelmeerinsel, die wenige Monate später weltweit zum Synonym für Vertreibung und Flüchtlingskatastrophen wird, muss sich Adama von einem Freund leihen. Er schämt sich immer noch, dass er es bis heute nicht zurückzahlen konnte. Er höhlt ein Brot aus und versteckt sein Handy darin. Adama schafft es auf ein kleineres Boot. Sie sollen sich mit nach vorne gespreizten Beinen auf den Schiffsboden setzen. Einer hinter den anderen. Dicht gedrängt. 180 Menschen. Sechs Frauen, eine von ihnen hochschwanger, sind mit ihren kleinen Kindern unter Deck.

Kurz nach dem Ablegen erklären die Libyer einigen Afrikanern, wo Italien liegt und wie das Boot zu steuern ist – und fahren dann mit einem Beiboot davon. „Ihr braucht zwei Tage.“ Am zweiten Tag fällt der Motor aus. Und das Boot hat ein Leck, durch das langsam das Wasser steigt. Die Menschen denken, es seien Teufel im Wasser, die beruhigt werden müssen. „Darum hat jeder seine Münzen ins Meer geworfen.“ Adama erzählt, dass ein Afrikaner sogar sein Gebiss ins Meer werfen wollte, um die Teufel gnädig zu stimmen, aber dann habe der Anführer der Gruppe gesagt, das könne er im Mund behalten. Der Mann habe auch gedroht, jeden ins Wasser zu werfen, der sein Geld nicht dem Meer gebe. Hat es geholfen? Adama lächelt: „Jedenfalls lebe ich noch.“

In Hamburg ist Adama mit Judith K. manchmal zum Hafen gegangen. Als sie an den Landungsbrücken die Barkassen sahen, hat Judith K. ihn gefragt, ob das Schiff, auf dem er nach Lampedusa gekommen sei, ähnlich groß gewesen ist. Adama hat gelacht: „Das war viel kleiner, Judith. Auf solch ein Schiff wie diese Barkasse hätten ja 1000 Menschen gepasst.“

Als ihr leckgeschlagenes Schiff auf dem Mittelmeer zu sinken droht, fangen die Flüchtlinge an zu beten. In der Nähe ist noch ein größeres Schiff. „Wir haben gewinkt, aber es ist weitergefahren.“ An Bord sind Christen und viele Moslems. Jeder betet zu seinem Gott um sein Leben. Ein Christ, sagt Adama, ist nach einiger Zeit zu den Moslems gegangen. „Ich bin lieber bei euch. Da, wo viele beten, fühle ich mich sicherer.“

Schwimmen kann Adama nicht. „Kaum ein Malier kann schwimmen.“ Sie schneiden einen leeren Benzinkanister mit Messern in Stücke und schöpfen pausenlos Wasser aus dem Boot. Nach drei Stunden kommt ein Hubschrauber, sie winken verzweifelt mit ihren Pullovern. „Da standen wir schon bis zu den Knien im Wasser.“ Was los sei, will der Pilot per Megafon wissen. Alle schreien durcheinander. „In zehn Minuten ist Hilfe da“, kommt es vom Himmel zurück. Ein Schiff nähert sich und setzt mehrere kleine Rettungsboote aus. „Bleibt ruhig, geht nicht alle auf eine Seite, Frauen und Kinder zuerst!“ Zehn Minuten nachdem der Letzte von Bord ist, sinkt das Schiff.

Am 29. April 2011 kommt Adama auf Lampedusa an. „Ich wusste nicht, wo ich war.“ In Hamburg, sagt er, schrecke er nachts manchmal hoch, weil er geträumt habe, dass er ertrinkt.

Von Europa wusste Adama, „dass das ein Kontinent ist und wo Frankreich liegt“. Nun ist er in Italien. Am Ufer stehen Krankenwagen. Helfer kommen, um die Menschen in Empfang zu nehmen. Journalisten warten auf die Gestrandeten. Busse bringen sie in ein Militärcamp. Drum herum eine vier Meter hohe Mauer mit Stacheldraht.

Sie bekommen einen Plastikumhang gegen die Nässe und die Kälte. Dann werden sie aufgerufen. Sie müssen ihren Namen, ihr Geburtsdatum und ihr Geburtsland angeben. Sie bekommen eine Nummer, werden fotografiert und müssen ihre Fingerabdrücke abgeben. Adama hat keine Papiere mehr. „Die haben sie jedem abgenommen, bevor er aufs Schiff gegangen ist.“

Sie bekommen eine Zahnbürste, Seife und neue Kleidung. Sie übernachten erst im Freien. Als es zu regnen beginnt, bekommen sie Schlafplätze in einem kleinen Haus. Mehrere Zimmer, Etagenbetten. Zu essen gibt es ein Brötchen und ein Ei, dazu Leitungswasser. Bei der Essenausgabe muss man sich beeilen. Wer zu spät kommt, für den gibt es nichts mehr. Drei Tage bleibt Adama auf Lampedusa. Dann sollen sie auf ein sehr großes Schiff. „Manche dachten, das ist ein riesiges Haus.“ Viele haben Angst, dass sie nach Libyen zurückgebracht werden. Die Fähre fährt nach Sizilien. Nach zwei Tagen in einem Lager in Pozzallo geht es mit einem Bus Richtung Norden. Sie sind 57 Personen. Nach sechs Stunden erreichen sie Sanza, eine 3000-Einwohner-Gemeinde 80 Kilometer südlich von Salerno. Kaum Menschen, rundherum Wald und Berge. Sie kommen in ein Hotel, teilen sich zu viert ein Zimmer. Jeder bekommt einen Koffer, drei paar Schuhe, Kleidung und Handschuhe. Morgens gibt es Brot und Kaffee, abends Pasta.

Aber es gibt nichts zu tun in dieser menschenleeren Gegend. Ein Tag ist wie der andere. Essen, warten, essen, schlafen. Zweimal die Woche lernen sie Italienisch. Es wird Weihnachten. Adama sieht das erste Mal lustige Rentiere mit Schlitten, geschmückte Häuser und leuchtende Tannenbäume. Es wird Frühling, und sie sitzen immer noch in den Bergen. Sie beginnen einen Hungerstreik. „Wir wollten arbeiten und Geld verdienen.“

Adama bekommt von den Behörden 25 Euro pro Woche. Im Sommer 2012 setzt er sich in den Bus und fährt nach Neapel. Es heißt, dort würden Arbeiter für die Tomatenernte gesucht. „Arbeitsvermittler rufen dich auf dem Handy an und sagen, wo du hinkommen sollst.“ Es geht nach Foggia, wo Erntehelfer aus Afrika, Rumänien oder Bulgarien unter erbärmlichsten Bedingungen schuften. „Europas neue Sklaven“ titeln die Zeitungen. Pro Kiste gibt es drei Euro. Wenn es regnet, werden die Tomaten mit der Hand gepflückt. Wenn es trocken ist, mit der Maschine. „Irgendwann isst du nie wieder eine Tomate.“ Die Arbeit geht von sechs bis 16 Uhr. In zehn Stunden verdient Adama im Schnitt 35 Euro. Sie schlafen in Zelten.

Als sie am 16. September morgens mit dem Auto zu den Feldern fahren, knallen sie gegen einen Baum. Adama saust mit dem Kopf durch die Scheibe. Alles voller Blut, das Schlüsselbein gebrochen. Er kommt mit inneren Blutungen ins Krankenhaus. Nach fünf Tagen muss Adama die Klinik verlassen, er kann kaum laufen. Freunde holen ihn ab, bringen ihn zurück nach Sanza und pflegen ihn.

Im November 2012 werden sie nach Salerno gefahren. In der antiken Hafenstadt geht es um ihre Zukunft. Um ihre Papiere. Sie stellen Adama viele Fragen. Warum bist du aus Mali weggegangen? Wie heißt die Hauptstadt? Wo ist der Flughafen? Wie bist du nach Libyen gekommen? Warum? Und warum bist du nicht nach Mali zurückgegangen, als der Krieg ausgebrochen ist?

Adama sagt, das sei nicht möglich gewesen. „Es gab keinen Ausgang. Der einzige Ausgang war das Meer.“ Von den 57 Afrikanern bekommen nur drei Papiere. Wenn der Beamte die Namen aufruft und „negativ“ sagt, brechen die Menschen in Tränen aus.

Adama bekommt Papiere: einen Pass und eine Aufenthaltsgenehmigung für ein Jahr. Er weiß nicht, warum er die Papiere bekommt und die anderen nicht. Auf seinem Pass steht Elfenbeinküste „Warum nicht Mali?“, fragt er. Wenn du aus Mali kommst, kriegst du keine Aufenthaltsgenehmigung, haben sie gesagt. Adama war noch nie in der Elfenbeinküste.

Am 28. Februar 2013 schließen die Italiener das Lager in Sanza. „Wo sollen wir denn hin?“, fragen die Afrikaner. „Das ist uns egal“, heißt es. Die EU sei schließlich groß. „Findet euren Weg.“ Nach drei Tagen werde die Polizei kontrollieren, ob auch alle weg sind. Jeder bekommt noch einen Scheck über 500 Euro.

Adama hat noch einen Rucksack, Unterwäsche, Hose, Pullover, zwei Brote, Milch und Wasserflaschen, sein Handy und seinen Pass. Er fährt nach Neapel und trifft zwei Afrikaner, die aus Frankreich zurückgekommen sind. „Sie erzählten, dass es dort auch keine Arbeit und nicht einmal einen Platz zum Schlafen gibt.“ Also Deutschland. Warum? „Der Name hat mir gut gefallen“, sagt Adama. Er geht zum Bahnhof. „Wo willst du hin?“, fragt der Mann am Schalter. „München, Frankfurt, Hamburg?“ Adama nimmt das dritte Wort. Das Ticket nach Hamburg soll 286 Euro kosten. Er fragt den Mann: „Kann ich von 200 Euro in Deutschland leben?“ Die Antwort: „Sicher, du gehst in ein Hotel. Und bekommst überall eine gute Arbeit.“ Adamas Hände zittern, er hat noch nie so viel Geld auf einmal ausgegeben. Er denkt: „Gott ist groß, lass es mich riskieren.“

Am 3. März 2013 kommt Adama um 23 Uhr am Hauptbahnhof in Hamburg an. Er spricht jeden Afrikaner an, dem er begegnet. Gibt es hier Arbeit? Gibt es hier einen Platz zum Schlafen? Der erste sagt: „Ich wohne mit meiner Frau in einem Zimmer, ich kann dir nicht helfen.“ Der zweite sagt: „Ich schlafe selbst auf der Straße.“ Der dritte sagt: „Ich verstehe dich nicht.“

Auf dem Hauptbahnhof kann er sich fünf Tage lang aufhalten. Er kauft sich eine Kleinigkeit für drei Euro und bleibt den ganzen Tag dort. Nur schlafen darf er nie. Alle Bahnpolizisten kennen ihn. „Worauf wartest du?“ Auf einen Freund, sagt Adama.

Dann versucht er es in der türkischen Moschee. „Kann ich hier zwei Stunden schlafen?“ Sie sagen, er könne etwas zu essen bekommen. Bevor das Essen kommt, schläft er ein. Sie wecken ihn. Schlafen darf er dort nicht. Einer gibt ihm den Tipp, nach St. Pauli ins Cafée mit Herz zu gehen. St. Paulis sozialer Hafen. Er bekommt etwas zu essen und schläft sofort ein. Er darf dort einmal übernachten und überlegt, Christ zu werden. Er sagt, auf seinem Weg hätten ihm immer wieder Christen geholfen.

Von St. Pauli geht es ins Pik As, dort heißt es: „Wir sind voll.“ Adama stellt sich in der Spaldingstraße beim Winternotprogramm an. Um 17 Uhr ist Einlass. Lange Schlangen. Es kommt zum Streit an der Tür, der Pförtner ruft die Polizei. Adama nimmt seinen Rucksack und legt sich in einem U-Bahnhof schlafen. Dann trifft er auf eine Gruppe Afrikaner, die sich regelmäßig abends in einer Garageneinfahrt versammelt.

Am 17. April tritt dort um halb eins in der Nacht eine Frau auf sie zu und fragt, ob ihr jemand aus der Gruppe helfen könne, die Koffer nach oben in ihre Wohnung zu tragen. Als Judith K. den beiden Afrikanern wenig später anbietet, in ihrer Wohnung zu übernachten, kann Adama das nicht glauben. „Du kanntest uns doch gar nicht.“ Zu seinem Freund sagt er: „Keiner wollte uns, bis wir hierhergekommen sind. Die Erde ist so groß, wie weit muss man gehen, um solch einen Menschen zu treffen?“

Jeden Tag geht er in die Stadt und fragt nach Arbeit. „Ja, wenn du ordentliche Papiere hast“, sagen sie ihm. In der St. Pauli Kirche trifft er sich regelmäßig mit den anderen Lampedusa-Flüchtlingen. In einem Souterrain auf St. Pauli lernt Adama zusammen mit anderen Afrikanern Deutsch und hat nur einen großen Wunsch: Er will als Schweißer arbeiten. „Das Wichtigste ist, dass ich arbeiten kann“, sagt er. Wo sieht er seine Zukunft? „In Hamburg.“ In anderen Ländern sei er ständig als „Sklave“ beschimpft worden. „In Hamburg bin ich noch nie beleidigt worden.“ Die Menschen seien unglaublich freundlich und hilfsbereit. Und Hamburg überhaupt die schönste Stadt. So sauber und ruhig.

Adama ist auf seiner langen Reise einmal umgekehrt. Als der Vater krank war. Adama setzte sich zu ihm ans Bett. Sie haben drei Stunden geschwiegen. Dann hat sich sein Vater plötzlich aufgesetzt und gefragt: „Willst du wieder gehen?“ Ja, hat Adama gesagt. „Es ist gut, dass du gekommen bist“, hat sein Vater gesagt, „ich habe dir vergeben, dass du heimlich weggegangen bist.“

Im März ist seine Aufenthaltsgenehmigung für Italien abgelaufen. Adama überrascht Judith K. mit einer Busfahrkarte nach Neapel, die er von Unterstützern bekommen hat. „Fahr nicht, du minderst deine Chancen, in Hamburg bleiben zu dürfen“, sagt sie. „Kannst du mir versprechen, dass ich hier bleiben kann?“, fragt er. Das kann sie nicht. „Wenn ich keine italienischen Papiere mehr habe, werde ich aus Deutschland nach Afrika abgeschoben“, sagt er. Das könne er nicht ertragen.

Er packt das Nötigste zusammen und fährt nach Neapel. Er will in einem Monat wieder zurück sein.

In Neapel lebt Adama in einem Abbruchhaus mit vielen Afrikanern. Ohne Wasser, ohne Strom. Jeden Tag fahren sie zwei Stunden aufs Land. Dort gibt es ab und zu Arbeit. Adama verdient manchmal zehn Euro mit Tomatenpflücken. In der Woche. In einer Kirche bekommen sie einmal in der Woche einen Sack Reis und eine Flasche Öl.

Am 25. Juli telefoniert Judith K. mit ihm. Seine Papiere hat er immer noch nicht. „Bist du noch dünner geworden?“, fragt sie. „Ja Judith, und noch schwärzer.“ Wieso? „Wir haben kein Wasser zum Waschen“, sagt er. Seinen leisen Humor hat er nicht verloren.

Seitdem hat Judith K. von Adama nichts mehr gehört.