Vor 150 Jahren wurde die Psychiatrische Einrichtung Friedrichsberg eröffnet. Matthias Schmoock über eine damals neue Form der Unterbringung von „Pfleglingen“ mit Kegelbahn, Teichen und Konzerthaus.

Auch im Jahr 1864 gab es in Hamburg schon Menschen mit Sinn für spektakuläre, medial wirksame Auftritte. Der Psychiater Prof. Ludwig Meyer (1827–1900) ließ auf dem Heiligengeistfeld öffentlich Zwangsjacken und sogenannte Zwangsstühle aus alten Beständen versteigern. Die Hamburger staunten nicht schlecht und die Zeitungen berichteten ausführlich. Kurz zuvor war Meyer erster Direktor der im Oktober 1864 errichteten „Separat-Irrenanstalt“ Friedrichsberg geworden, und seine Botschaft war klar: Auf dem weitläufigen Gelände, bei dessen Gestaltung Meyer entscheidend mitgewirkt hatte, sollte auf Überkommenes verzichtet werden – es gab nicht einmal vergitterte Fenster oder Besuchsbeschränkungen für die Angehörigen.

Das Konzept galt als Novum in Deutschland, denn Meyer war einer der ganz wenigen Anhänger des „Non restaint“-Systems, einer aus Großbritannien stammenden Behandlungsform, die bei Betreuung und Versorgung psychisch Kranker ohne Zwangsmittel auszukommen versuchte, wie der Medizinhistoriker Kai Sammet erläutert. Nach nur zwei Jahren im Amt folgte Meyer einem Ruf nach Göttingen. Sein Nachfolger Daniel Wilhelm Reye leitete die Geschicke in Friedrichsberg dafür dann gleich 42 Jahre.

Im Lesesaal der Staats- und Universitätsbibliothek wird die „Erinnerungsschrift“ zum 25-jährigen Bestehen der Anstalt mit dem alten Grundriss des Geländes verwahrt. Heutigen Lesern muss auffallen, wie weitläufig und modern die Anlage mit Wildgehege, Teichen und Konzerthaus gestaltet war, aber auch, wie freundlich im Ton über die Kranken berichtet wurde. „Jede Abtheilung bildet für sich eine Art Familienwohnung“, heißt es dort unter anderem – ähnliche Wohnformen gibt es in den entsprechenden Einrichtungen heute immer noch. Allerdings existierte auch damals schon eine Zwei-Klassen-Medizin: 200 „Pfleglinge“ der dritten und vierten Klasse lebten vor allem im Haupthaus, 40 der ersten und zweiten Klasse in zwei separaten Häusern, den sogenannten Pensions-Anstalten – eine für Männer, eine für Frauen.

Mit rund 2000 Aufnahmen war Friedrichsberg eine der größten Anstalten

Hamburgs damals hoch entwickeltes, einflussreiches Vereinswesen (heute würde man ihm Netzwerkcharakter bescheinigen) hatte nicht nur bei der Finanzierung der rund 900.000 Mark teuren Anstalt helfend eingegriffen. Gedankt wird in der Schrift auch dem „Frauenverein für die Geisteskranken“, der „in freigebiger Weise für Beschaffung von Gartenpavillons, eines Flügels, eines Billards und einer Kegelbahn sorgte“. Die Zahl der Patienten stieg kontinuierlich – im Jahr 1888 lag sie beispielsweise bereits bei 1225.

Von 1908 bis 1934 war Prof. Wilhelm Weygandt (1870–1939) ärztlicher Leiter der mittlerweile in „Staatskrankenanstalt Friedrichsberg“ umbenannten Einrichtung. Er verlegte einen Schwerpunkt auf naturwissenschaftliche Forschungen und initiierte vor Ort unter anderem zahlreiche Laboratorien. Unter seiner Ägide entwickelte sich Friedrichsberg mit rund 2000 Aufnahmen pro Jahr zu einer der größten deutschen Anstalten. Weygandt war auch federführend bei der Planung der Erweiterungsbauten. Etliche neue Gebäude waren das Ergebnis, viele von Oberbaudirektor Fritz Schumacher in dem für ihn typischen Stil ausgeführt. Auch ein Wildgehege, Teiche und ein Konzerthaus befanden sich schließlich auf dem Gelände.

Doch die aufwendige und teure Betreuung war auf Dauer nicht durchzuhalten, und spätestens seit der Weltwirtschaftskrise gab es Pläne, die Anstalt neu zu organisieren oder ganz aufzulösen. Mitte der 1930er-Jahre endete die Zeit, in der man psychisch Kranke vorbildlich zu behandeln versuchte. Die Anstalt Friedrichsberg wurde 1935/36 aufgehoben und die Patienten in andere Krankenhäuser verlegt, vor allem nach Langenhorn. 1936 zog die „Psychiatrische und Nervenklinik der Hansischen Universität“ für sechs Jahre in Friedrichsberg ein. Von nun an wurden die Kranken rigoros selektiert. „Nicht Behandlungswürdige“ kamen nach Langenhorn, wo die meisten dem nationalsozialistischen Euthanasieprogramm zum Opfer fielen und in Vernichtungslager deportiert wurden. Das Ende der einstmals vorbildlichen Anlage ist schnell erzählt: Friedrichsberg ging im „Staatskrankenhaus Eilbek“ auf, und fast alle der alten Gebäude wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört. 2006 übernahmen schließlich die Schön Klinken das Allgemeine Krankenhaus Eilbek, der ganz alte Name ist noch in der Friedrichsberger Straße und als S-Bahn-Station erhalten.

Die „Zitronenjette“ verbrachte die letzten 20 Jahre ihres Lebens hier

Ludwig Meyer und seine Mitstreiter sind in der Stadt weitgehend vergessen, und auch an die vielen Geldgeber und ehrenamtlichen Helfer von einst erinnert fast nichts mehr. Kurioserweise wird das Andenken an eine ehemalige Patientin in Hamburg viel höher gehalten. Die kleinwüchsige Alkoholikerin Johanne Henriette („Jette“) Marie Müller war 1894 von der Polizei in Friedrichsberg eingeliefert worden. Anstaltsleiter Weygandt bezeichnet sie in seinem Buch „Erkennung der Geistesstörungen“ unter anderem als „(...) harmlose Schwachsinnige mit Zwergenwuchs (130 cm)“. Über die bedauernswerte Frau, die sich auf Hamburgs Straßen als Zitronenhändlerin durchgeschlagen hatte, verspottet und misshandelt wurde, gibt es zwei Theaterstücke. Ein kleines Denkmal und eine Tafel im Garten der Frauen auf dem Ohlsdorfer Friedhof verweisen auf sie, sogar ein Ehrenpreis ist nach ihr benannt. Rund 20 Jahre hat die „Zitronenjette“ in Friedrichsberg noch gelebt, wurde mit Gemüseputzen und Kartoffelschälen beschäftigt. Einen „friedlichen Lebensabend“ soll sie dort angeblich verbracht haben – friedlicher mit Sicherheit als einst auf den rauen Straßen Hamburgs.