Ganz oben sein – und trotzdem auf dem Boden bleiben. Diese Tugend beherrschte sie perfekt

Die Männer in dem Holzverschlag unter der Brücke an der Helgoländer Allee waren eine Menge gewohnt – vor allem Schlechtes. Doch diesen Januarmittwoch 1996 haben sie so rasch nicht vergessen. Im Guten. Da stand am späten Abend plötzlich eine kleine, ältere Frau mit Wollmantel, Kopftuch und dicken Handschuhen vor ihrer Notunterkunft und bat um Einlass. Auf einer wackeligen Apfelsinenkiste nahm sie Platz. Und das mit 81 Jahren! Dann fing sie an zu schnacken. Einfach so.

Irgendwann dämmerte es dem „Platten-Boss“ Günther: Das ist doch Heidi Kabel, der Star aus dem Ohnsorg-Theater. Extrem frostig war es, neun Grad minus, ein Lagerfeuer brannte. Die Obdachlosen setzten Teewasser auf, reichten alte Rundstücke. Die Besucherin griff zu. Dann hörte sie zu. Interessiert und lange.

Als Heidi Kabel nach zwei Stunden ging, war den Männern irgendwie wärmer zumute. Und die in Günthers Jackentasche geschobenen Scheine wurden brüderlich geteilt. Wichtiger noch: Am nächsten Vormittag klingelte bei einigen nicht ganz unwichtigen Menschen in Hamburg das Telefon: „Unten an den Landungsbrücken muss dringend was passieren. Die armen Leute. Macht bitte hin!“ So geschah es dann auch. Großen Wirbel um diese Hilfsaktion hat die Schauspielerin nicht gemacht.

Typisch Heidi Kabel.

Ganz oben sein – und trotzdem auf dem Boden bleiben, diese Tugend beherrschte die Volksschauspielerin ebenso gut wie ihr Hand- und Mundwerk auf der Bühne. Ohne fürstlich bezahlte PR-Strategen schaffte die Volksschauspielerin das, von dem andere nur träumen können: Sie fand Platz in den Herzen der Menschen, nicht nur in ihrer Heimatstadt. Und auch wer mit Plattdeutsch oder dem Ohnsorg-Theater nicht so viel am Hut hatte, spürte: Dieser Star blieb immer Mensch. Grundsätzlich. Lebenslang. Und auch nach ihrem Tod im Juni 2010 blieb dieser einmalig gute Ruf erhalten.

Sollten andere doch ihre Nase oben tragen! Wenn es darum ging, kleinen Leuten zur Seite zu stehen, war sie zur Stelle. Mit ihrem zugkräftigen Namen, mit erstklassigen Kontakten, mit materieller Unterstützung oder, ganz einfach, mit ihrer Herzenswärme.

Selbst im hohen Alter versüßte sie Adventsfeiern in Seniorenstiften, demonstrierte gemeinsam mit HDW-Arbeitern auf dem Rathausmarkt oder betete öffentlich in St. Jacobi: „Ik lees dat Evangelium Lukas een.“ Sie marschierte zum Schulfest bei schwerhörigen Kindern in der Münzstraße auf, war im Freundeskreis des Pflegeheims Oberaltenallee aktiv, warb für Gästebetten anlässlich des Kirchentages und konnte an Bettlern in der Innenstadt nicht vorbeigehen, ohne ihre Geldbörse zu zücken.

Ganz besonders angetan hatte es ihr der Nachwuchs. Der persönliche, mehr als 30-jährige Einsatz für den Kinderschutzbund ist unvergessen, ebenfalls ihre Patenschaften für Menschen in Not auf Jamaika. Und wenn sie eine ihrer zahlreichen Ehrungen oder Preise in Empfang nahm, folgte regelmäßig die Aufforderung an den Stifter, doch bitteschön eine Überweisung für die sinnvolle Sache zu organisieren.

Im Fernsehen machte sie immer wieder Werbung für die Hansestadt. Im berühmten Kittel wie im schicken Kostüm. „Wer trotz enormer Erfolge so normal und zurückhaltend bleibt, ist eine echte Persönlichkeit“, stellte nicht nur der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker beeindruckt fest. Quer durch alle Parteien, Konfessionen und gesellschaftliche Schichten wurde ein Wesen geschätzt, dessen Ausstrahlung und Stil gerade eben ob ihrer diskreten Art gewann. Ein Kunststück von Seltenheitswert. „Mit Wichtigtuern hab ich genug zu tun“, vertraute sie einem Freund an, „aber nix am Hute.“

Heidi Kabel ist und bleibt ein Denkmal ihrer Stadt. Mit Fug und Recht wird sie in einem Atemzug mit Hamburger Wahrzeichen wie Hummel, Zitronenjette und St. Michaelis genannt. Auch weil sie das Kunststück fertigbrachte, die norddeutsche Seele auf heitere Weise zu exportieren. Von wegen spröde und in sich gekehrt, humorlos und ausschließlich merkantiles Gewinnstreben im Sinn! Die 1,63 Meter kleine große Frau zeigte höchst unterhaltsam, wie das Leben gemeistert werden kann: mit Schalk im Nacken, mit Wortwitz, Intelligenz und individueller Note. „Uns Heidi“, so der von Zuneigung geprägte Ehrentitel, schaffte die Umsetzung meisterhaft – auf der Bühne wie im privaten Leben. Dieses Vermächtnis bleibt auf Dauer bestehen.