Vergessen, gestorben, begraben: Wie Tausende in Deutschland verschwand auch Klaus-Dieter Porath, ohne dass Verwandte oder Bekannte Notiz genommen hätten. Das Urnenbegräbnis in Öjendorf musste die Stadt Hamburg bezahlen. Aber der Mann hat doch existiert und muss folglich Spuren hinterlassen haben. Volker ter Haseborg hat sich vor zweieinhalb Jahren auf die Suche nach Poraths Vergangenheit begeben. Er rekonstruiert ein Leben, in dem es durchaus Freunde, eine Frau und sogar Kinder gab

Nachdem Klaus-Dieter Porath gestorben war, warteten die Behörden 14 Tage, dass sich jemand meldete, der den Toten begraben wollte.

14 weitere Tage – der Leichnam lag in der Kühlkammer des Öjendorfer Friedhofs – suchten die Mitarbeiter der Hamburger Friedhöfe nach Angehörigen, doch sie fanden niemanden. Vier Wochen nach dem Tod wurde Poraths Leichnam verbrannt.

Es ist Montag, der 21. November 2011, 9Uhr. Die Urne mit der Asche von Klaus-Dieter Porath steht in der Feierhalle 2 des Öjendorfer Friedhofs, zusammen mit 29 anderen Urnen. 30 Tote, um die niemand trauert. Mehr als 100 Menschen hätten in der Feierhalle Platz, doch die Bänke bleiben leer. Kein Schniefen, kein verlegenes Hüsteln, keine gemurmelten Beileidsbekundungen. Der Raum ist geheizt, aber es ist kalt.

In Deutschland müssen sich Angehörige um die Bestattung kümmern. Gibt es keine oder finden die Behörden keine, beerdigt der Staat die vergessenen Toten „von Amts wegen“. Die Einäscherung, Aufbewahrung und die Bestattung von Klaus-Dieter Porath kosten die Stadt Hamburg 1650 Euro. Die Hansestadt fasst den Begriff der Angehörigen sehr weit: Nicht nur Ehepartner, Lebenspartner und Kinder, sondern auch Verlobte und Schwager, Onkel und Tanten, Nichten und Neffen gehören dazu. Und dennoch findet sich viel zu häufig keiner von diesen Angehörigen, der die Toten beerdigt.

Im Jahr 1997 waren es in Hamburg noch 314 vergessene Tote, im Todesjahr von Porath, also 2011, waren es 806. Und im vergangenen Jahr 1098. Rechnet man die Hamburger Zahlen hoch, verschwindet jedes Jahr in unserem Land eine kleine Stadt voller Menschen, ohne dass es jemand merkt. Und diese Stadt wächst.

Warum ist das so? Was für Menschen waren die Verstorbenen? Wie sahen sie aus, was haben sie gerne gemacht? Warum hatten sie zum Schluss niemanden mehr? Wurden sie je geliebt? Gab es etwas Gutes in ihren Leben? Und: Gibt es nicht doch jemanden, der ihnen nahestand?

Das habe ich mich vor zweieinhalb Jahren gefragt und mich entschlossen, diese Geschichte zu schreiben. Um Hamburgs vergessenen Toten ein Gesicht zu geben. Wenigstens einem von ihnen: Klaus-Dieter Porath.

Die letzte Wohnung

Pastor Jürgen Probst erinnert sich zumindest ein wenig an Klaus-Dieter Porath. Zigarettenqualm liegt in der Luft, das Café Regenbogen ist fast leer. Ein Mann nähert sich mit mechanischen Schritten. Sein Kopf ist mit einem Polster geschützt vor Stürzen und Wänden, er verdreht die Augen, seine Zunge hängt heraus. Er kommt näher. Probst, Lederjacke, grauer Bart, sonore Stimme, sagt freundlich: „Nein, wir haben keine Zigarette.“ Der Mann macht kehrt, kommt nach 30 Sekunden zurück. Wieder keine Zigarette. So geht das immer weiter. Probst kennt das.

Das Café Regenbogen befindet sich im Pflegeheim von Pflegen&Wohnen Öjendorf, einer Einrichtung für trockene und nasse Alkoholiker. Es liegt etwas abseits, zwischen einem Bach, einer Kleingartenkolonie und dem Öjendorfer Park. Eine lange Straße führt zur Hauptstraße. Dort ist der nächste Lidl-Markt, wo es billigen Schnaps gibt und billiges Bier. Wenn man zum Pflegeheim fährt, dann sieht man auf der langen Straße die Heimbewohner, jeder geht für sich, eine Plastiktüte in der Hand, manche haben Rollatoren, andere hinken. Aber sie müssen zum Lidl. Auch Porath musste dorthin.

Probst, Jahrgang 1949, ist der Seelsorger in Öjendorf. Er hört sich die Sorgen derer an, die sich das Hirn aus dem Kopf gesoffen haben und jetzt einsam sind. Weil es Brüche gegeben hat. Alkohol, Drogen, Gewalt in der Familie, Scheidungskriege. Die Unfähigkeit, miteinander zu reden und einander zu verzeihen. Es sind nicht nur arme Schlucker oder Greise, die einsam sterben, sagt Probst. Die Jüngste, die er kannte, war 26, eine Drogensüchtige.

Mitarbeiter und Bewohner haben versucht, das Leben von Klaus-Dieter Porath irgendwie zu würdigen. Sie trafen sich im Café Regenbogen, Probst hatte einen Altar aufgebaut, sie hätten gerne ein Foto von dem Verstorbenen aufgehängt, aber sie fanden keins. Sie erzählten einander, was sie über ihn wussten. Es war nicht viel. Dass er ein schlanker Mann mit dunklen Haaren war, dass er zum Schluss nur ein Bein hatte. Dass er sehr verschlossen war, viel auf seinem Zimmer. Dass er zuletzt eine Magensonde hatte und nicht mehr sprechen konnte. Zum Schluss der Trauerfeier spielte Pastor Probst von der Musikanlage ein Lied ab: „My Way“ von Frank Sinatra.

Porath wohnte in Zimmer 2203, er hatte einen Mitbewohner, der mittlerweile auch gestorben ist. Ein Tisch, zwei Betten mit Rollen, zwei Kleiderschränke, zwei Nachttische, ein Waschbecken und zwei Fenster. Der Blick geht raus ins Grüne. Porath hatte keine eigenen Möbel, keine Bilder an der Wand. Als er hier einzog, trug er zwei Plastiktüten mit Kleidungsstücken bei sich.

Er war im Frühjahr 2009 nach Öjendorf gekommen. Vorher hatte er bei einer Freundin auf der Couch geschlafen. Als die Frau starb, brachte ihre Tochter Porath hierher. Eigene Kinder, da sind sich hier im Pflegeheim alle sicher, hat er nicht gehabt. Er hat jedenfalls nie davon erzählt. Oliver Rausch war sein Pfleger. Über den Verstorbenen sagt er: „Er konnte hier prima leben. Im normalen Leben wäre er nicht mehr klargekommen.“

8 Uhr Frühstück, 12 Uhr Mittag, 18 Uhr Abendbrot. In den Stunden dazwischen ging Porath zu Lidl. Die 100 Euro Sozialhilfe bekam Pfleger Rausch monatlich überwiesen, der zahlte es als Taschengeld an Porath aus, jede Woche eine Rate.

Klaus-Dieter Porath hat freiwillig im Garten gearbeitet, hat Laub geharkt und Büsche beschnitten. Das Arbeiten im Freien machte ihm Spaß. Das schien er auch früher schon gern gemacht zu haben.

Und dann, im April 2009, war er plötzlich weg. Monatelang. Ein Mitarbeiter des Heims sah ihn in einer Kneipe in Wilhelmsburg. „Ich wohn jetzt bei einem Kumpel“, sagte Porath.

Im Januar 2010 ein Anruf von der Klinik: Porath sei eingeliefert worden, er habe auf der Straße gelebt, ein Fuß sei abgefroren, müsse amputiert werden. Wenig später war er wieder in Öjendorf. Er zog in das Zimmer 2203, brauchte jetzt Krücken, trank weiter. Die Amputationswunde am Fuß heilte nie.

Im Frühjahr 2011 klagte er über Halsschmerzen, die Ärzte diagnostizierten Zungen- und Mundkrebs und rieten zu einer Chemotherapie. Der Patient weigerte sich, ging wieder auf sein Zimmer, legte sich in sein Bett. „Er war ein friedlicher Mensch, anspruchslos“, sagt Rausch. Es war schwer für Porath, zum Schluss das Oettinger-Bier in seinen kaputten Mund zu bekommen. Eine Sterbebegleitung lehnte er ab. „Alles gut, lass mich mal“, sagte er, freundlich, aber bestimmt. Oliver Rausch hatte den Eindruck, er habe Frieden mit seinem Leben gemacht.

Das ist alles, was sich im Jahr 2011, dem Jahr seines Todes, über Klaus-Dieter Porath zusammentragen lässt.

Pastor Gerriet Heinemeier, ein ernster, großer Mann im schwarzen Talar, wendet sich in der leeren Feierhalle des Öjendorfer Friedhofs den Urnen zu und spricht: „Vor uns stehen 30 Urnen mit der Asche von Menschen, die alle ihr Leben gelebt haben, auf ihre Weise. Sie sind nicht vergessen bei Gott.“ Seine Worte hallen durch den leeren Raum. Er bittet Gott auch für die Gesellschaft: „Lass uns nicht abstumpfen“, sagt er.

Wie kommt man an Informationen über einen Menschen, über den niemand etwas weiß? Da Klaus-Dieter Porath zwischendurch in Wilhelmsburg bei einem Kumpel gewohnt haben soll, frage ich Wirte und Gäste in Wilhelmsburger Kneipen. Niemand kann mir etwas sagen.

Dann habe ich Glück: Im Abendblatt-Archiv finde ich eine Meldung aus dem April 2009. „Wer hat Herrn Porath gesehen?“ Es ist eine Suchmeldung der Hamburger Polizei, als er aus dem Pflegeheim abgehauen war. „Der Vermisste ist orientierungslos und hat weder Geld noch Papiere bei sich.“ Auch ein Foto wurde abgedruckt. Es zeigt einen Mann in den 50ern, er sitzt auf einem Sofa, trägt einen abgetragenen Pulli, er hat dunkelblondes, zerzaustes Haar, einen Schnurrbart. Der Blick aus glasigen Augen ist stumpf. So also sah Klaus-Dieter Porath zuletzt aus.

Der Abstieg

Der Staat hat über jeden seiner Bürger Daten. Die Behörden wissen, wo jemand geboren ist, wo er gemeldet war, wo er gearbeitet hat, ob er verheiratet war, Kinder hatte. Nur: Sie dürfen darüber eigentlich keine Auskunft geben. In den Jahren 2012 und 2013 erzähle ich mehreren Beamten von Klaus-Dieter Porath. Statt auf Ablehnung zu stoßen, höre ich: Immer häufiger haben auch sie mit Menschen zu tun, von denen niemand etwas weiß. Ein Missstand, der sie betroffen macht. Und deshalb wollen die Beamten helfen, die Geschichte von Porath zu erzählen.

Klaus-Dieter Porath hatte in den zehn Jahren vor seinem Tod neun verschiedene Anschriften in Hamburg. Immer wieder war er verzogen, ohne dass jemand wusste, wohin. Er war zuletzt obdachlos.

1991 und 1992 arbeitete er als Kraftfahrer, danach zwei Jahre als Gerüstbauer, danach wieder zwei Jahre als Kraftfahrer. Am 16. August 1997 meldete er sich zum ersten Mal arbeitslos. 1998 Trainingsmaßnahme beim Arbeitsamt, danach Containerpacker, zwei Jobs bei Wachdiensten. Spätestens ab 2007 lebte er ausschließlich von Hartz IV. Die Betreuer beim Jobcenter vermerkten, dass er bei den Beratungsgesprächen einen ungepflegten Eindruck macht. Sie fragten ihn, ob er Alkoholiker sei, Porath verneinte. Er machte eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, Parkpflege.

Ein Betreuer vermerkte, dass Herr Porath „aufgrund seines hohen Alkoholkonsums oft verwirrt“ sei. Versuche, ihn wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren, scheiterten. Ihm wurde eine amtliche Betreuerin zur Seite gestellt. Am 19. März 2009 wurde er aus der Arbeitsvermittlung abgemeldet.

Was seinen Familienstand angeht, sind die Daten der Behörden unklar: Im Jahr 2011 heißt es, Porath sei „ledig, allein lebend“ gewesen, später, dass er im Jahr 2006 eine Polin geheiratet hat. Das Paar lebte nicht lange zusammen. Porath blieb in Hamburg. Seine Frau verließ die Stadt 2007, ihre Spur verliert sich in Polen.

Schließlich, die Recherche zieht sich schon bis ins Jahr 2014 hinein, stellt sich mithilfe einer Behörde heraus, dass Klaus-Dieter Porath gar nicht aus Hamburg stammt. Sondern aus Mecklenburg-Vorpommern. Er ist am 6. Juni 1953 in Goldberg geboren. Goldberg im Landkreis Ludwigslust-Parchim, 160 Kilometer von Hamburg entfernt. Außerdem war er schon einmal verheiratet: von 1976 bis 1995. Klaus-Dieter Porath hatte also ein erstes Leben.

Ein Mitarbeiter der Friedhofsverwaltung Öjendorf liest die Namen der 30 Verstorbenen vor. Pastor Heinemeier spricht ein Gebet, bittet Gott, den Toten Ruhe und Frieden zu schenken. Vaterunser, Aussegnungsformel, nach zehn Minuten ist die Aussegnung der 30 vergessenen Toten beendet. Der Mitarbeiter der Friedhofsverwaltung stellt die Urnen in lange Holzkisten, immer vier in eine. Die Urne mit der Asche von Klaus-Dieter Porath stellt er in Kiste 2.

Das erste Leben

Das Leben von Klaus-Dieter Porath begann am 6. Juni 1953 in einem schönen Backsteinhaus in Goldberg. Das Landambulatorium könnte eine repräsentative Villa sein, aber das Gebäude steht leer. Das Krankenhaus wurde in den 90er-Jahren geschlossen. Goldberg, im westlichen Teil der Mecklenburgischen Seenplatte, ist eine sterbende Stadt. Viele Häuser verfallen, Geschäfte stehen leer.

Mithilfe von Ämtern in Mecklenburg-Vorpommern erfahre ich: Als Porath zur Welt kam, lebten seine Eltern noch in Below, ein paar Kilometer von Goldberg entfernt. Klaus-Dieter Porath hatte noch zwei Schwestern, Zwillinge, drei Jahre jünger als er. Zur Schule ging er in Techentin. Seit 1960 war er Jungpionier. 1965 zog die Familie um, nach Dobbertin, in den Ortsteil Kläden. Klaus-Dieter Porath ging nach der 8. Klasse von der Schule ab.

Das ehemalige Wohnhaus der Familie hat eine Fachwerkfassade, von innen ist das Gebäude noch so wie damals, sagt der neue Besitzer. Er kann es sich nicht leisten, neue Dielen zu verlegen und eine moderne Küche einzubauen. Die Räume haben niedrige Decken, es ist dunkel, und es riecht muffig. Klaus-Dieter Porath war längst aus dem Haus, als seine Eltern das Wohnhaus verkauften und in die Ortsmitte zogen. Vielleicht wisse ja die Frau Arens von nebenan noch etwas, 83 Jahre sei sie jetzt, sagt der neue Besitzer.

Waltraut Arens will erst nicht öffnen. Erst als der Nachbar mit mir rübergeht und nach ihr ruft, macht sie auf und bittet in die Stube ihres alten Bauernhauses. Sie setzt sich in ihren grauen Polstersessel. Sie schaut auf das Foto von Klaus-Dieter Porath und sagt: „Ja, das ist Klaus.“ Vor zwei Jahren, 2012, ist die Mutter von Klaus-Dieter Porath gestorben. Alle hätten sich gewundert, dass Klaus nicht bei der Trauerfeier war. Dass der Sohn schon ein Jahr vor der Mutter gestorben war, wusste hier keiner, sagt sie. 1999, als der Vater starb, sei Klaus bei der Beerdigung gewesen. Aber damals habe sie einen Schreck bekommen. Weil Klaus so schmal geworden war und so schlecht aussah.

Sie erinnert sich vor allem an den sehr jungen Klaus. Ein patenter Bengel, er grüßte immer und half seinem Vater im Garten. In Dobbertin ging er zur Schule, dort spielte er nach der Schule Fußball. In der Bäckerei von Goldberg hat Klaus eine Lehre angefangen. Die Familie Porath waren einfache Leute. Waltraud Arens lehnt sich in ihren Polstersessel zurück. Herbert Porath, der Vater von Klaus, arbeitete im Forstbetrieb, die Holzstämme der staatlichen Försterei wurden noch mit Pferdekutschen bewegt. Die Mutter Erika war Hausfrau. Waltraut Arens und ihr mittlerweile verstorbener Mann gingen häufig mit ihnen aus. Man tanzte zusammen, es war eine schöne Zeit.

Seine erste Frau lernte Klaus in Goldberg kennen. Edeltraut hieß sie und machte eine Ausbildung zur Verkäuferin im Konsum, dem Lebensmittelladen. Viel mehr weiß Frau Arens nicht. Nur noch, dass Klaus nach der Hochzeit zu seiner Frau gezogen ist. Nach Retzow, 35 Kilometer entfernt.

Retzow also. Ein Anruf beim Bürgermeister, der angeblich jeden der Einwohner kennt: „Kannten Sie einen Klaus-Dieter Porath?“ Die Antwort kommt schnell. „Ja, ich war mal sein Chef. Was ist denn mit ihm? Wir fragen uns hier alle, was wohl aus ihm geworden ist.“ Er lädt zum Gespräch ein – unter der Bedingung, dass sein Name nicht in der Zeitung steht.

Früher lebten in Retzow 600 Menschen, heute vielleicht noch 250. Es gibt keine Geschäfte mehr. Früher gab es drei landwirtschaftliche Großbetriebe, LPGs. Der Bürgermeister wohnt ein paar Häuser neben dem Haus, in dem Klaus-Dieter Porath damals gelebt hat. 1976 zog Porath in das Elternhaus seiner Frau – ein einstöckiges Backsteinhaus mit einem Stall und großem Garten. Das Anwesen hat seit dieser Zeit schon zweimal den Besitzer gewechselt.

Es ist still im Haus des Bürgermeisters. Er bittet ins Wohnzimmer, an der Wand hängen Fotos von seiner Frau und Bilder, die seine Enkel „für Oma“ gemalt haben. Seine Frau ist vor Kurzem an Krebs gestorben.

Klaus-Dieter Porath fing als Traktorist bei ihm an, der Bürgermeister war damals Chef der LPG. Später kümmerte sich Porath um die Rinderzucht. „Er war vielseitig einsetzbar.“ Und wenn er ein paar Drinks intus hatte, war er auch ein fröhlicher Genosse.

Der Bürgermeister greift zum Telefon, wählt und sagt der Gesprächspartnerin, dass sie gleich Besuch von einem Reporter bekomme. Dann sagt er: „Fragen Sie ruhig die Rullerts, die waren mit denen befreundet.“

Die Rullerts wohnen ein paar Hundert Meter entfernt. Die beiden Rentner erzählen gern von der „guten alten Zeit“. Damals arbeiteten fast alle für die Landwirtschaft der DDR. Der Kalender war von Feiern gespickt, Anlässe gab es genug: die Erfüllung der staatlich verordneten Ergebnisse der LPG, Tag der Nationalen Volksarmee, Tag der Arbeit. „Am 7. Oktober war auch Sauftag, oder?“, fragt Ingrid Rullert ihren Mann Siegfried. Jawoll, das war der Nationalfeiertag. Auch das Erntefest wurde gefeiert – mit Tanz, Essen und Trinken. „Geht ihr hin?“, hieß es häufig von der Familie Porath. „Wir auch“, kam es von den Rullerts. Klaus war der Ruhige von den beiden, ein angenehmer Mann, gepflegt und ein guter Tänzer, erinnert sich Ingrid Rullert. Edeltraut war immer so fröhlich und unternehmenslustig. Die beiden Frauen waren Arbeitskolleginnen in der Broilerzucht. Die Männer waren zusammen bei der freiwilligen Feuerwehr. Es war alles so, wie es sein sollte. Sie arbeiteten, bekamen Kinder und gönnten sich ab und zu was.

Klaus-Dieter Porath, das stellt sich jetzt in den Gesprächen mit dem Bürgermeister und den Rullerts heraus, war Vater von zwei Kindern: Er hatte eine Tochter und einen Sohn. Die Kinder gingen in Ganzlin zur Schule.

Und dann war die Familie eines Tages im Jahr 1989 einfach weg. Die Kinder waren nicht in der Schule erschienen, die Eltern nicht im Betrieb. Später hörten die Retzower, dass die Familie in den Westen geflohen war, kurz vor dem Mauerfall. Sie lebten jetzt in Hamburg.

Vor einem Jahr nahm Edeltraut über Facebook plötzlich Kontakt zu Ingrid Rullert auf. Dann telefonierten sie. „Was macht dein Mann?“, fragte Ingrid Rullert. „Ich bin geschieden“, sagte Edeltraut. Sie habe erneut geheiratet und trage jetzt einen anderen Namen. Dass Klaus tot ist, sagte sie nicht.

Ingrid Rullert gibt mir den neuen Nachnamen und die Telefonnummer von Edeltraut. Bevor ich abreise, versuche ich es auf gut Glück bei der Schwester von Klaus-Dieter Porath.

Die Schwester

Die Schwester von Klaus-Dieter Porath öffnet die Haustür. Eine resolute Frau, kurze dunkle Haare, skeptischer Blick. Ich sage ihr, dass ich wegen ihres Bruders hier bin. Sie nickt kurz. Reinbitten möchte sie nicht. Wir bleiben vor der Haustür stehen.

Ja, sie habe gehört, dass ihr Bruder nicht mehr lebt. Über Umwege, aber nicht vom Amt. Sie habe nie ein gutes Verhältnis zu ihrem Bruder gehabt. Er habe sie schon als Kind schikaniert, immer wieder habe er ihr auch später Nackenschläge verpasst. Und sich immer für etwas Besseres gehalten, ja, das habe er, „hoch hinauswollte er“. Dabei habe er es doch hier in der Region gut gehabt – ein eigenes Haus, eigene Tiere. Doch dann sei er mit seiner Familie einfach in den Westen abgehauen. Später, nach der Scheidung von Edeltraut, habe sie ihn nie erreichen können. „Er ist weg und soll es auch bleiben.“ Kann sie denn irgendetwas Gutes über ihn sagen? Sie denkt nach, dann schüttelt sie den Kopf. „Er kann wegbleiben“, sagt sie. Dann schließt sie die Haustür.

Am Tag nach der Aussegnungsfeier stehen die Holzkisten am Schleemer Bach, Friedhofsbereich 319, Grabfeld 12. Ein nasskalter Novembermorgen, grau. Die Urnen der Toten, um die niemand trauert, werden morgens um acht begraben, vor allen anderen.

Die Ehefrau

Zurück in Hamburg. Anruf bei der Frau, mit der Klaus-Dieter Porath 19 Jahre verheiratet war. Ich frage sie, ob wir uns treffen und über Klaus sprechen können. Sie sagt sofort zu. „Es war ja nicht alles schlecht“, sagt sie am Telefon.

Edeltraut lebt mit ihrem zweiten Mann in Winsen an der Luhe in einem Reihenhaus aus Backstein. Sie hat kurze, schwarze Haare, eine gepflegte, gut gekleidete Frau um die 60. Sie ist höflich, lacht gerne. Sie sagt: „Selbst wenn ich gewusst hätte, dass er gestorben ist: Ich wäre nicht zu seiner Beerdigung gegangen.“ Und gezahlt hätte sie die Beisetzung erst recht nicht.

Dass ihr erster Mann tot ist, hat sie über Umwege erfahren. Ein Anruf aus einer Wilhelmsburger Kneipe: Ein Reporter vom Abendblatt sei da gewesen und habe gefragt, ob jemand etwas über Klaus-Dieter Porath wisse, der nicht mehr am Leben sei. „Das waren doch Sie, oder?“, fragt Edeltraut. Beim Standesamt haben sie sich mithilfe eines Freundes die Bestätigung geholt: Klaus ist tot. „Wir haben immer gesagt, dass es nicht mehr lange gut geht mit ihm.“

Klaus’ Schwester war ihre Kollegin im Konsum, die brachte den Bruder mal mit. Klaus wohnte gleich nebenan, in einer eigenen Wohnung. Er sah gut aus, hatte schulterlange dunkelblonde Haare, konnte gut tanzen. Ein Schlacks, er konnte essen, was er wollte.

Gemeinsam hörten sie heimlich den amerikanischen Soldatensender, der die Rolling Stones spielte. Und sie gingen im Goldberger Gasthaus tanzen. „Zu der Zeit war er noch ehrlich“, sagt Edeltraut. 1973 hatten sie sich kennengelernt, 1976 heirateten sie und feierten mit 100 Gästen. Ein großes Büfett zu organisieren, das war in der DDR schwierig. Aber sie hatten Beziehungen, trieben irgendwie Schnitzel und Würste für alle Gäste auf. Eine Kapelle spielte auf, Tanzpartner wurden willkürlich ausgelost. Bis 5 Uhr morgens wurde getanzt. „Das war ein schöner Tag“, sagt Edeltraut.

Kurz nach der Hochzeit verreiste das Paar: Es ging auf den Brocken und auf die Wartburg. Ein Hotel konnten sie sich nicht leisten, sie schliefen in ihrem Skoda S100. Einmal, als sie an der Wartburg waren, ging ein Gewitter nieder, die beiden verkrochen sich im Auto. Draußen schüttete, krachte und blitzte es – aber es machte ihnen nichts. Damals hatten sie viele Pläne: Kinder, keine Schulden, ein vernünftiges Leben.

Sie zogen zusammen nach Retzow in Edeltrauts Elternhaus. Sie bauten den ehemaligen Stall zum Wohnhaus aus, suchten sich Arbeit in der LPG. Nach der Arbeit begann zu hause die zweite Schicht. Die Familie hatte Bullen, Schafe, Hühner, Enten. Sie bauten Obst und Gemüse an und verkauften ihre Produkte auf dem Markt. Sie hatten das, wofür andere in der DDR lange Schlange stehen mussten. Sie konnten ihre Waren in Baumaterial umtauschen und ihr Zuhause weiter umbauen. Wenn sie mal Freizeit hatten, fuhren sie mit dem Motorboot auf dem Plauer See.

1977 wurde die Tochter geboren, 1979 der Sohn. Klaus war ein guter Vater, sagt Edeltraut. Zumindest in den ersten Jahren.

Die Stadt Hamburg hat für Grabschmuck gesorgt: Ein Kranz für alle und rote Rosen, die in grünen Plastikvasen auf dem Grabfeld stehen. Wieder ist ein Geistlicher da, der orthodoxe Frater Rafael, es ist so kalt, dass er eine knallrote Outdoorjacke übergezogen hat. Er breitet die Arme aus und segnet die grünen Kisten.

Irgendwann fing Klaus mit dem Alkohol an. Er trank mit den Kollegen nach der Arbeit – eine Kiste Bier war nichts Besonderes. Klaus arbeitete nicht mehr auf dem Hof mit. „Hör mit dem Saufen auf“, sagte sie ihm. Er trank weiter. Aggressiv war er nie, nur lethargisch. Ihr Vater sagte: „Lass ihn laufen, die Kinder kriegen wir schon groß.“ Sie wollte ihn aber nicht laufen lassen, gerade wegen der Kinder.

In dieser Zeit, Mitte der 80er-Jahre, fühlte sich Edeltraut in der DDR immer unwohler. Wenn sie Verwandte im Westen besuchte, war dort immer alles so bunt. „Als ich das erste Mal bei C&A war, musste ich weinen“, sagt sie. Sie wollte eine gute Arbeit haben, ihren Kindern eine Ausbildung ermöglichen, reisen können. Im September 1989 hörten sie von den DDR-Bürgern, die über Ungarn oder die Tschechoslowakei in den Westen ausgereist waren.

Am 8. November fuhren sie mitten in der Nacht los. Es klappte: Über das heutige Tschechien ging es ins Übergangslager Friedland. Am 9. November fiel die Mauer. Sie rief ihren Onkel an, der in Hamburg lebte. Der sagte: „Kommt hoch zu uns.“ Edeltrauts Cousine räumte ihre Zweizimmerwohnung für die Ost-Verwandten. Wenig später fand Edeltraut einen Job als Verkäuferin bei Aldi, Klaus fing als Lkw-Fahrer bei einer Firma an. Sie verdienten Geld, konnten sich schnell eine eigene Wohnung leisten. Sie fanden ein neues gemeinsames Hobby: Dartspielen. In Wilhelmsburger Kneipen übten sie. Und sie waren gut, sagt Edeltraut. So gut, dass sie von manchen Turnieren ausgeschlossen wurden.

Klaus trank mindestens drei bis vier Ein-Liter-Dosen Bier am Abend. Er baute einen Unfall mit dem Laster, bei dem ein Kollege verletzt wurde. Porath bekam die Kündigung. Er machte sich als Gerüstbauer selbstständig und zahlte keine Steuern. Auf einmal lasteten 20.000 Mark Schulden auf der Familie. Edeltraut hatte genug. Erst sprach sie mit den Kindern: Ihr Sohn wollte mit ihr ausziehen, die Tochter entschied sich, beim Vater zu bleiben.

Die Tochter sollte nicht glücklich werden mit ihrer Entscheidung. Immer wieder schickte ihr Vater sie, Bier zu kaufen, vertrank ihr Erspartes. Ihre Lehre zur Zahnarzthelferin brach sie ab, fing selbst an zu trinken. Einmal schlief er mit der Kippe betrunken ein, sein Kissen hatte schon Feuer gefangen; die Tochter fand ihn gerade noch rechtzeitig. Nach einem Jahr zog sie aus.

1995 wurde die Ehe der Poraths geschieden. Edeltraut fand eine Wohnung in Wilhelmsburg. Sie liefen sich häufiger über den Weg, auch beim Dartspielen. Dort flehte Klaus sie an. „Wir können doch wieder zusammenkommen!“ Er rasierte sich nicht mehr, stank. Er lallte, wurde aufdringlich, die anderen Kneipengäste sagten ihm, er solle Edeltraut in Ruhe lassen. „Es war widerlich mit ihm“, sagt Edeltraut.

Die Totengräber sind zu viert. Einer zeichnet 30 Markierungen in den Boden, alle 50 Zentimeter eine. Dort sollen die Toten liegen. Ein Friedhofsgärtner tuckert mit einem Trecker aufs Feld, mit einem Erdbohrer gräbt er 30 Löcher in den Boden, der Duft von frischer Erde weht über das Feld. Ein anderer Mann nimmt die Urne von Klaus-Dieter Porath aus der Kiste 2. Auf der Urne steht, dass Klaus-Dieter Porath am 6. Juni 1953 geboren und am 3. September 2011 gestorben ist. Gestorben im Alter von 58 Jahren.

Nur einmal im Gespräch über Klaus zeigt Edeltraut Gefühle, als sie das letzte Foto von ihm sieht. Sie zuckt zusammen, wendet sich ab. „Furchtbar!“, flüstert sie. Dann steht sie auf, sucht etwas, kommt mit einer abgewetzten Karstadt-Tüte zurück. Fotos, ungeordnet.

Die ersten sind schwarz-weiß. Ein junger Mann mit Schlaghose, er trägt ein weißes Hemd und bemüht sich um aufrechte Haltung – ein Foto aus der Kennenlernzeit. Ein immer noch junger, aber schon gereifter Mann auf der Pferdekutsche, er lüftet seinen Hut. Die Hochzeit – er im etwas zu weiten Anzug, weißes Hemd, gestreifte Krawatte; sie ganz in Weiß mit langen Haaren, ihr Gesicht hat sich bis heute kaum verändert.

Dann werden die Fotos farbig, sie haben einen Orange-Stich und sind etwas unscharf, Bilder aus den späten 70er-Jahren. Ein junger Vater in blauem Hemd und brauner Cordhose, seine kleine Tochter sitzt auf seinem Schoß, er lässt sie nicht aus den Augen. Der Vater sieht glücklich aus. Neuere Bilder zeigen das Ehepaar, beide um die 40, auf einer Butterfahrt. Und den Ehemann mit der Schwiegermutter im Arm. Schließlich einen Mann im knallroten Sakko vor einer Dartscheibe.

Edeltraut lächelt, als sie die Bilder ansieht. Kann sie etwas Gutes über Klaus sagen? Sie überlegt lange, dann sagt sie: „Früher war er in Ordnung.“

Der Sohn und die Tochter wollen nicht über ihren Vater sprechen. Das lassen sie über ihre Mutter ausrichten. Und diesen einen Satz: „Er war unser Erzeuger. Aber nicht unser Vater.“

Edeltraut sagt, dass ihre Tochter geweint hat, als sie vom Tod ihres Vaters hörte. Später dann hat die Tochter ihr aufgetragen zu fragen, wo ihr Vater begraben liegt. Damit sie vielleicht doch mal an sein Grab gehen kann.

„Gedenke seiner, o Herr“, ruft Frater Rafael. Der Mitarbeiter schaufelt Erde auf das Loch der Grabstelle 492, die Urne liegt darin. Erst blitzt der silberne Deckel noch durch die Erdklumpen, dann wird es schwarz. Nach zwei Minuten ist die Beisetzung von Klaus-Dieter Porath beendet. Die Gärtner machen das Loch in der Erde nicht nur zu, sie schaufeln einen Haufen lockerer Erde auf das Grab. Wenige Minuten später sind auf dem Grabfeld 12, Friedhofsbereich 319, 30 Erdhügel zu sehen. Und die Totengräber ziehen weiter.