Vor 100 Jahren wurde die Frauenklinik Finkenau eröffnet. Angela Grosse erinnert an die Maßstäbe, die das Haus setzte, und warf erstmals einen Blick in die Geburtsbücher. Da stehen auch Uhrzeit und Gewicht eines Jungen, der mal Kanzler werden sollte.

Der Junge wog 3650 Gramm und maß 51 Zentimeter. So weit alles normal. Das Besondere: Er war das erste Baby, das in der vor 100 Jahren eröffneten Frauenklinik Finkenau geboren wurde. Am 4. Juli 1914 um 11.10 Uhr war er da, als viertes Kind einer 24 Jahre alten Tischlersfrau namens Margarethe. Sie wohnte, wie fast alle Mütter in den Anfangsjahren, in der Nähe der Klinik. So steht es in dem schweren und großformatigen Geburtsbuch aus jenem Jahr. Darin ist auch zu lesen, dass 1914 noch 784 Kinder folgten.

Mit der Klinik Finkenau, die Fritz Schumacher gebaut hatte, war oder ist das Leben von mehr als einer Viertelmillion Menschen in und um Hamburg verbunden. Sie alle haben in der Hamburger Geburtsklinik das Licht der Welt erblickt. Die Geburtsbücher, die bis heute unter Verschluss sind, berichten nicht nur über Geschlecht, Geburtsgewicht und -länge der Babys, sondern auch über die Dauer und den Verlauf der Entbindung, die Anzahl der Lebend- und Totgeburten der Mutter sowie ihren Namen und Stand. Friseurfrauen, Zimmermannsfrauen, Arbeiterfrauen, Dienstmädchen, Architektenfrauen, Kaufmannsfrauen, Schneidersfrauen – und auch Lehrersfrauen kamen, um mit der Unterstützung von Hebammen und unter der Obhut von Fachärzten zu entbinden.

Unter dem Datum 23.12.1918 beispielsweise ist im Geburtsbuch zur laufenden Nummer 1532 notiert: Knabe, 3610 Gramm, 52 Zentimeter. Als Mutter ist die 28 Jahre alte „Lehrersfrau“ Ludovica Schmidt eingetragen; der Junge, der um 10.15 Uhr auf die Welt kam, erhielt den Namen Helmut – er wurde später Bundeskanzler. Seinen Geburtseintrag dokumentieren wir, mit Genehmigung des Altkanzlers, exklusiv.

Fast hätte es das Institut für Geburtshilfe gar nicht gegeben, der Bau ist dem Drängen der Hamburger Frauenvereine zu verdanken. Das schreiben die Autoren der Festschrift zum 50-jährigen Bestehen der Frauenklinik Finkenau. Bereits 1796 hatte es die Assekuranz-Compagnie durch eine Spende in Höhe von 3000 Mark ermöglicht, dass in einem leer stehenden Saal des damaligen Zuchthauses an der Binnenalster ledige, arme Mütter betreut entbinden konnten. Eine Hebamme – Wehmutter oder Bademuhme, wie sie damals hieß – wohnte in dem Haus. Sie half bei den Geburten und verwaltete die „Anstalt“. Ein Arzt schaute einmal am Tag vorbei.

25 Jahre später begann die rund 70 Jahre dauernde Odyssee dieser Einrichtung durch Hamburg, nirgends blieb sie lange erhalten. Schließlich entschied der Senat, am Neuen Allgemeinen Krankenhaus in Eppendorf, dem heutigen UKE, eine Entbindungsklinik zu errichten. Dagegen protestierte am 8. März 1892 der Geburtshülfliche Verein. Die geplante Klinik läge zu weit weg vom Stadtzentrum, der Weg sei für die Schwangeren und auch für die Hebammenschülerinnen nicht zumutbar. Doch schon damals regierte der Rotstift – und der Senat stellte die Protestler vor die Wahl: entweder dort oder gar nicht. Das Ergebnis: Der Senat baute eine Entbindungsanstalt auf dem preiswerten Eppendorfer Gelände. Sie ging 1899 in Betrieb. Kurze Zeit später öffnete eine kleine Entbindungsabteilung im Hafenkrankenhaus und 1909 eine im Krankenhaus St. Georg.

Doch schon bald reichten die Betten nicht mehr aus. Die Zeit der Hausgeburten neigte sich dem Ende zu, auch Frauen gehobener Schichten wollten in Kliniken entbinden. So kam es 1909 zu der Petition der Hamburger Frauenverbände. Sie ist die Geburtsstunde der Frauenklinik Finkenau. Nach heftigen Debatten am 15. und 22. Juni 1910 darüber, ob diese Klinik überhaupt nötig sei, erlaubte die Bürgerschaft dem Senat, das Institut für Geburtshilfe an der Finkenau zu bauen. Nur drei Monate später legte Oberbaudirektor Fritz Schumacher die ersten Entwürfe für eine Klinik vor, beraten wurden er und die Baukommission von dem späteren ärztlichen Direktor Prof. Julius Fressel.

Die Klinik sollte sich architektonisch in das Villenviertel einpassen. „Die Entbindungsanstalt“, erläuterte Schumacher, „ist dabei der Kern der Anlage; sie enthält Kreiß- und Operationssäle mit ihren Nebenräumen. Damit vereinigt sind drei verschiedene Abteilungen für Wöchnerinnen – 215 Betten für normale Fälle, 20 Betten für Infektionsfälle und 20 Betten für nicht ansteckende, kranke Mütter. Das Programm umfasst ferner ein Säuglingsheim.“

Das Institut für Geburtshilfe leistete aber nicht nur Geburtshilfe, der Bau diente auch „einer mit diesen Abteilungen verbundenen wissenschaftlichen und praktischen Lehranstalt“. Mit dem Anbau 1928, der den Hörsaal beherbergte, wurde dieser Anspruch unterstrichen. Ausgebildet wurden damals nicht nur alle Hebammen für Hamburg, sondern auch Ärzte. Zwar musste die wissenschaftliche Arbeit der an der Frauenklinik tätigen Mediziner hinter der praktischen Arbeit zurückstehen, dennoch veröffentlichten sie zahlreiche Abhandlungen zu zentralen Themen der Frauenheilkunde – und führten in der Geburtshilfe Neuerungen ein wie beispielsweise Ernst-Joachim Hickl. Er leitete die Klinik von 1972 bis 1996. Allein während seiner Zeit kamen dort 55.000 Kinder zur Welt, und erstmals durften Väter, trotz des Widerstandes der Hebammen, nicht nur den Kreißsaal betreten, sondern auch noch die Nabelschnur durchtrennen.

Im Jahr 2000, nach intensiven Debatten und vielen Protesten, schloss diese Klinik. Der Unterhalt der historischen Gebäude war zu teuer geworden. Heute studieren in diesen geschichtsträchtigen Räumen angehende Künstler, Designer, Filmemacher, Artdirektoren, Grafikdesigner oder Bibliothekare. Wer weiß – einige von ihnen könnten hier geboren sein.