Designerin Ina Hattebier plädiert für einen offeneren Umgang mit dem Thema Sterben. Ihr Beitrag sind individuell gestaltete Urnen

An einem Fahrstuhl im Esbjerger Kunstmuseum steht dieser Satz. Irgendjemand hat ihn als Aufkleber dort angebracht. „Kunst ist eine unnütze Lebensnotwendigkeit.“ Der Satz hätte von ihr sein können. Ina Hattebier arbeitet als Grafikerin und Dozentin. Aber eigentlich macht sie das nur, um ihre tatsächliche Berufung zu subventionieren. Und das ist die Kunst. Der Prozess des kreativen Schaffens und Betrachtens, der Entwicklung und Wirkung, wie sie es nennt. Es sind Animationen und Projektionen, Videos und Fotofilme. Bewegte Bilder, die zum Nachdenken anregen, die die Wahrnehmung aus den Angeln heben und das Gesehene in einen völlig neuen Kontext stellen. Sie machen Spaß. Sie werden ausgezeichnet. Und anerkannt. Aber sie lassen sich nicht verkaufen.

Also geht sie an zwei Tagen in der Woche unterrichten, erklärt den Schülern an der Design Factory Hamburg Designgrundlagen und lehrt sie, mit dem Layoutprogramm Indesign zu arbeiten. Sie verdient gerade so viel, dass sie ihre Kunst bezahlen kann und ein bescheidenes Leben obendrein. Mehrfach haben ihr in der Vergangenheit Werbeagenturen einen festen Job angeboten. Fünf Tage die Woche am Computer. Jedes Mal, wenn so ein Angebot kam, fühlte sie, wie sich der Strick um ihren Hals zuzuziehen drohte. Der finanziellen Sicherheit zuliebe auf die künstlerische Arbeit zu verzichten – für sie undenkbar.

Zwei Studiengänge hat sie absolviert. Visuelle Kommunikation an der Fachhochschule Bielefeld und Freie Kunst an der Hochschule für Bildende Kunst Hamburg. Sie ist 35 Jahre alt, als sie ihr zweites Diplom endlich in der Tasche hat. Sie genießt ihre Freiheit, wird mit Förderpreisen und Stipendien überhäuft. Die Tage verbringt sie in ihrem Atelier, das sie sich mit anderen Künstlern teilt. Die Abende sind angefüllt mit Vernissagen und Ausstellungsbesuchen. Gemeinsam mit ihrem Partner Hanno Krieg entwickelt sie Videos und Fotofilme. Die Kunst verbindet. Der Kontakt zur Szene inspiriert.

Ina Hattebier glaubt, dass ihr Leben komplett ist. Und für ein Kind kein Platz. Doch als sie 41 wird, hört sie, wie das leise Ticken immer lauter wird. Ein Jahr später bringt sie Tochter Leiken auf die Welt. Die Geburt verändert ihr Leben. Und den Blick auf die Welt um sie herum. „Ich hielt dieses kleine Geschöpf in den Armen und war baff darüber, wie fragil so ein Leben ist“, sagt sie. „Ich habe gespürt, dass es diesmal um etwas Existenzielles geht. Um etwas sehr Kostbares und Zerbrechliches.“

Plötzlich fühlt sie sich auf Vernissagen fehl am Platz. Sie kann sich nicht mehr richtig einlassen, auf die Menschen nicht und nicht auf die Gespräche. Sie glaubt, dass die Distanz zum Kunstbetrieb eine vorübergehende Erscheinung ist. Und dass sie später wieder in diese Welt zurückkehren wird. Doch das ist ein Trugschluss. Sie hat als Mutter einen neuen Raum betreten. Fortan gelten andere Werte, andere Wichtigkeiten. „Ich habe mich gefragt, wozu das alles, was ich tue, gut ist. Und was ich mit meiner Arbeit wirklich erreichen möchte.“ Sie spürt, dass sie ihrer Kunst eine neue Richtung geben muss. Inhalte, die sich mit existenziellen Themen auseinandersetzen. Sie wünscht sich mehr Tiefe.

Über einen befreundeten Fotografen kommt sie an ein Projekt für Hamburg Leuchtfeuer. Die Organisation kümmert sich mit einem Hospiz um Schwerkranke und Sterbende und betreut HIV-positive und an Aids erkrankte Menschen. Und sie betreibt das Lotsenhaus in Altona. Ein Haus für Trauer, Abschied, Gedenken. Mit ihren Schülern von der Design Factory entwickelt sie ein Kochbuch mit Rezepten aus dem Hospiz. In einem weiteren Projekt gestalten sie Trauer- und Beileidskarten für das Lotsenhaus. Ina Hattebier spürt, dass sie auf dem richtigen Weg ist. Mit jedem Tag, den ihre Tochter auf der Welt ist, sie das pralle Leben spürt, wird das Bewusstsein für die Endlichkeit stärker. „Zum Leben gehört der Tod, zur Geburt das Sterben“, sagt sie.

Als sie im Lotsenhaus einen Flyer mit der Ankündigung einer Ausbildung zur Trauerbegleiterin liest, weiß sie, dass sie etwas ändern muss. Sie beschließt, die Ausbildung zu machen. Ein Jahr dauert sie. Die Teilnehmer lernen, wie sie Trauernde in Einzelgesprächen helfen, ihre Trauer zu begreifen und Hilfestellung und Entlastung zu empfangen. Sie entwickeln ein neues Bewusstsein für die Themen Leiden, Sterben, Tod, Verlust, Trauer und Leben. Und sie erfahren, dass Trauer so individuell ist, wie die Menschen selbst es sind.

Am Ende des Seminars weiß die Künstlerin, dass sie als Trauerbegleiterin nicht wird arbeiten können. Aber dass sie ihre Kunst dazu nutzen möchte, der Trauer Raum zu geben. Sie möchte den Trauernden eine Möglichkeit schaffen, etwas für den Verstorbenen und damit für sich zu tun. Aus diesem Wunsch heraus entsteht die Idee der anderen Urnen. Sie will etwas mit Papier machen. Weil sie diesen Rohstoff liebt und sie eine große Leidenschaft mit diesem Medium verbindet. Im Sommer zuvor hat sie mit ihrer Tochter und den Kindern auf dem Campingplatz zwischen Mölln und Ratzeburg Papierbögen aus heimischen Pflanzen, Algen und Seegras geschöpft. Sie haben dort seit zehn Jahren einen Bauwagen stehen. Jedes Wochenende verbringen sie dort. Als sie die Idee der Gestaltung von Urnen entwickelt, erinnert sie sich an jenen Sommer und an das Papier. Sie sieht darin den Kreislauf von Werden und Vergehen – und damit das perfekte Material für ihre Arbeit.

Die Urnen werden in Handarbeit mit Papier bezogen. Das Papier wird dabei in kleine Stücke gerissen und anschließend auf der Form aufgebracht. Stück für Stück entsteht so eine neue Hülle. „Eine Urne kann Zuneigung und Wertschätzung ausdrücken“, sagt sie. „Wenn wir sie für andere aussuchen, reflektieren wir ein Bild von dem geliebten Menschen. Die Beschäftigung mit der Frage, welche Farbe, Form, welches Muster der verstorbenen Person gefallen hätte, kann helfen, das Erlebte zu begreifen, Nähe zum Verstorbenen schaffen und tröstlich sein für die, die zurückbleiben.“ Es sei doch so, dass der Mensch heutzutage glaube, alles sei steuerbar, jeder Prozess könne gestaltet werden. Was für ein Irrtum!

Es ist ein schwieriges Thema, das weiß sie. Weil trotz aller Enttabuisierung, die es in dieser Gesellschaft gibt, das Thema Sterben, Tod und Trauer noch immer ein Randthema ist. Etwas, über das man nicht spricht. Mit dem man sich nur ungern beschäftigt. Sie hat das gespürt, als sie auf ihrer ersten Ausstellung der Urnen-Modelle eine Liste auslegt, in die sich Interessenten eintragen sollen. Am Ende der Veranstaltung steht kein einziger Name darauf. „Die Menschen haben Angst, dass sie sich mit ihrem Namen auf die Liste derjenigen setzen, die als Nächstes betroffen sein könnten“, vermutet Ina Hattebier. Sie selbst sieht in der Auseinandersetzung mit dem Tod ein Chance. „Ich fühle mich lebendiger im Angesicht des Todes“, sagt sie. Und dennoch bleibe dieser für sie etwas Undenkbares.

Sie glaubt, was alle glauben. Dass sie ein langes Leben haben wird. Sie hat sich schon jetzt ausgerechnet, dass sie ziemlich lange wird arbeiten müssen. Weil die Rente ganz sicher nicht reichen wird. Das sei halt so als Künstlerin. Das Geld ist immer knapp. Und so kämpft sie um jeden Euro. Vor allem dann, wenn es um bezahlbare Ateliers für Künstler in der Innenstadt geht. Mit Wut im Bauch sieht sie, wie die Mieten steigen und Künstler an den Stadtrand gedrängt werden. „Sie sind gut genug, ein Viertel spannend zu machen. Wenn dann aber die Mieter kommen, die mehr Geld bringen, stören sie. Im nächsten Jahr könnte sie dazugehören. Der Mietvertrag für das Atelier in der Blücherstraße auf St. Pauli läuft nach 15 Jahren aus. 4,50 Euro kalt zahlen die Mieter pro Quadratmeter. Sie ist sicher, dass dies nicht so bleiben wird. Wohin die Reise dann gehen wird, ist ungewiss.

Schon einmal, Ende der 90er-Jahre, musste sie mit ihren Kollegen ein Atelier verlassen. Es lag am Rödingsmarkt. Die Besitzer wollten das Gebäude sanieren. Innerhalb von 14 Tagen mussten sie raus. Das Haus steht noch heute leer.

Ina Hattebier weiß, dass sie diesen Prozess in der Stadt nicht wird aufhalten können. Sie ist aber auch nicht bereit, den Mund zu halten. Auch dann nicht, wenn es um ihr eigenes Viertel geht: St. Pauli. Sie ist sich mit ihren Nachbarn einig, dass das Viertel nicht zur Party- und Eventmeile verkommen darf. Inzwischen finde jedes Wochenende eine Großveranstaltung statt. Und schon donnerstags kreisten deswegen die Hubschrauber. Der Stadtteil verkomme zum Touristenviertel. Dann packt Ina Hattebier zusammen und flieht aufs Land in den kleinen Bauwagen. Oder sie zieht sich in ihr Atelier zurück und versinkt in ihre Arbeit. An die Wand im Flur hat sie einen Aufkleber gehängt. Darauf steht: „Es geht um Leben und Tod!“ Der Satz hätte von ihr sein können.