Schauspielerin Sylvia Wempner erhebt ihre dunkle weiche Stimme, wann immer sie Unrecht sieht: das Vergessen der Nazi-Gräuel zum Beispiel, den Umgang mit Flüchtlingen oder Mieterhöhungen in ihrem Stadtteil St. Georg. Porträt einer herzlich Unbequemen von Hanna Kastendieck

Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, Besonderes für die Stadt leisten, als Vorbild gelten. Sylvia Wempner bekam den Faden von Esther Bejarano und gibt ihn an Michael Joho weiter.

Als sie ihn das erste Mal sah, war sie 23 Jahre alt. Sie steckte in den Abschlussprüfungen an der Schauspielschule. Er war Dozent. 19 Jahre älter als sie. Ein attraktiver Mann. Einer, der was zu sagen hatte. Der den Mund aufmachte. Und obendrein auch noch prominent war. „Es könnte gut sein, dass der Typ mein Mann wird“, hat Sylvia Wempner bei der ersten Begegnung gedacht. „Vielleicht für eine Nacht. Vielleicht für eine Woche.“ Jetzt ist ein ganzes Leben daraus geworden.

Seit 34 Jahren ist sie mit Rolf Becker verheiratet, der zu den renommiertesten deutschen Schauspielern zählt. Sie haben das gleiche Metier. Zusammen gespielt haben sie auf der Bühne allerdings nur einmal. „Danach war uns klar, dass wir nicht fürs gemeinsame Arbeiten zusammen sind.“ Sondern weil sie viele andere Dinge verbinden. Ganz besonders das Engagement in friedenspolitischen Fragen, das Bedürfnis, deutsche Geschichte zu thematisieren. Dafür geht Sylvia Wempner auf die Bühne, in Gedenkstätten, ins Polittbüro und liest. Gegen das Vergessen.

Sie hat eine schöne Stimme. Dunkel, weich. Eindringlich. Wenn sie spricht, kriechen dem Zuhörer die Worte unter die Haut. Sie erzählt Geschichten, die nicht loslassen. Steigt mit ihren Zuhörern im Rahmen des Auschwitz-Komitees in den Zug der Erinnerungen. Sie lässt die Aufzeichnungen von Esther Bejarano, Martin Doerry oder Günther Schwarberg lebendig werden. Und gibt den Kindern vom Bullenhuser Damm ihre Stimme zurück. In der dort ansässigen Schule wurden am 21. April 1945 20 jüdische Kinder ermordet. Wempners Lesungen sind eine Herausforderung zum Handeln. Eine Warnung. „Schaut hin, passt auf, leistet Widerstand und lasst euch nicht alles gefallen“, das ist ihre Botschaft.

Und dann gibt es den Widerstand im Kleinen. Das Engagement im Stadtteil St. Georg. Sie lebt dort mit ihrem Mann und Adoptivsohn Anton. Die beiden Großen sind schon aus dem Haus. Mit Argusaugen beobachtet die Schauspielerin, wie sich der Stadtteil verändert. Wie die Mieten steigen, Händler aufgeben, Familien wegziehen, Die Altbauwohnung an der Koppel haben sie seit über 35 Jahren gemietet. Inzwischen zahlen die Mieter über ihnen für die gleiche Fläche das Doppelte. Also geht sie auf die Straße. Kämpft mit den anderen für die Rechte der Bürger. Manchmal geht es um Spielplätze, um Verkehrsberuhigung, um den Erhalt eines Traditionsgeschäftes wie der Buchhandlung Wohlers. Manchmal um Drogenpolitik, Schulthemen, um Flüchtlinge. Sie mischt sich ein.

Sylvia Wempner fragt nicht, ob sie als Schauspielerin mehr hätte erreichen können. Sie hat Talent, das haben ihr alle Wegbegleiter bescheinigt.

1954 wird sie in Flensburg geboren. Ihre Eltern Irmgard und Fritz Wempner arbeiten beide für die Niederdeutsche Bühne. Die Schauspielerei prägt die Kindheit. Nach dem Abitur beschließt sie, nach Berlin zu gehen, beginnt ein Studium der Theaterwissenschaften. Doch es fehlt ihr die Praxis. Also bricht sie das Studium ab und stellt sich an der Hochschule für Musik und Theater am Harvestehuder Weg vor. Sie wird angenommen. Die Zeit mit ihrer Schauspiellehrerin Annenarie Marks-Rocke bezeichnet sie als eine der wichtigsten in ihrem Leben. „Sie hat die Schüler mit so viel Liebe, Wärme und Zugewandtheit aufgebaut, ihnen geholfen, ihre Stärken zu finden und Schwächen zu akzeptieren.“

Es folgen unter anderem Engagements am Staatstheater Kassel, an der Hamburgischen Staatsoper, am Schauspielhaus, den Kammerspielen, in Bremen, Würzburg und Feuchtwangen. Sie spielt die Lena in Büchners „Leonce und Lena“, Ottilie in Goethes „Wahlverwandschaften“, die Isabella in Shakespeares „Maß für Maß“. 1979 wird ihr erster Sohn Max geboren. Die Schauspielerin pendelt zwischen Bühne und Babybett. Irgendwann merkt sie, dass beides mit Vollgas nicht geht. Als Sohn Emil auf die Welt kommt, zieht sie sich von der Bühne zurück.

Und dann kommt Anton. Das liegt zwölf Jahre zurück. Sie erinnert sich noch an den Tag, als Jens Huckeriede bei ihr anrief. Der Filmemacher, der im Dezember vergangenen Jahres starb, war ein Freund der Familie. Sylvia Wempner schätzte seine Art, wie er junge Menschen ermunterte, sich mit der deutschen Geschichte zu beschäftigen. Huckeriede arbeitete neben seiner Kunst für den Verein Sternipark. Ob sie als Pflegeeltern einen Jungen aufnehmen könnten, der Sternipark anvertraut wurde? So lange, bis die Mutter vielleicht auftaucht. Sechs, acht Wochen. Sylvia Wempner und Rolf Becker geben dem Kind den Namen Anton.

Anton bleibt. Tage, Wochen, Monate. Als Anton zwei Jahre alt ist, entscheiden sie sich für eine Adoption. „Seine Mutter hat ihn schon vor der Geburt emotional verlassen“, sagt Sylvia Wempner. „Das hat Spuren hinterlassen.“ Anton hat es nicht leicht mit sich. Er kann sich nur schwer konzentrieren, ist unruhig, aber fantasievoll und kreativ. 2013 spielt er in dem Fernsehfilm „Zappelphilipp“ von Connie Walther einen Jungen mit ähnlichen Schwierigkeiten. Durch Anton muss sich die Mutter mit dem Thema „Inklusion“ auseinandersetzen. Sie erlebt, dass so etwas nicht zum Nulltarif funktioniert. „An den Schulen fehlt Personal“, beklagt sie. So werde Inklusion in vielen Schulen zur Exklusion.

Es macht sie schier verrückt, dass überall dort gestrichen wird, wo der Nachwuchs betroffen ist. In den Schulen, an den Theatern und Kultureinrichtungen, die sich mit ihren Angeboten direkt an die Schüler wenden. „Wenn man die PISA-Studie betrachtet, fällt auf, dass die Länder am besten abschneiden, die finanziell und personell an den Schulen gut ausgestattet sind“, sagt sie mit einem Kopfschütteln. Kinder seien die Zukunft. Und an ihr dürfe man nicht sparen. Sie zu mutigen, selbstbewussten und kritischen Menschen zu machen sieht sie als eine der wichtigsten Aufgaben an. Das gilt für sie als Mutter. Das gilt für sie als Lehrende am Hamburger Schauspiel-Studio Frese. Seit 1987 arbeitet sie dort als Dozentin. Sie vermittelt handwerkliche Strukturen, aber auch Selbstwahrnehmung, Konflikt- und Teamfähigkeit. Sie schult den Blick für gesellschaftliche Zusammenhänge und hilft ihnen, ihre Fantasie zu entwickeln. „Um einen Mörder zu spielen, muss man nicht jemanden umgebracht haben“, sagt sie. „Aber man muss Fantasie so schulen, dass man sich in eine Situation reindenken kann, in der man zum Mörder werden könnte.“

Vielmehr aber möchte sie den jungen Leuten Zuversicht vermitteln. Sie bestärken im Glauben daran, dass eine gerechtere Welt möglich ist. Es sind Fragen wie diese, die sie bedrängen: Wie gehen wir mit Menschen um, die nach Deutschland kommen? Wie stehen wir zu militärischen Auseinandersetzungen? Schauen wir zu, leisten wir Widerstand? Und wann muss man auf die Straße gehen? Die deutsche Geschichte sitzt ihr im Nacken. Durch ihren Beruf ist sie mit Themen wie Neofaschismus, Antisemitismus und Rassismus konfrontiert. Sie kann die Betroffenheit nicht abschütteln. Aber sie kann dazu beitragen, dass andere sie teilen.

Das ist ihr wichtig. Den Mund aufzumachen. Entwicklungen nicht kritiklos hinzunehmen. In den vergangenen Monaten setzte sie sich mit ihrem Mann für die Lampedusa-Flüchtlinge in der St. Pauli Kirche ein. Sie glaubt an eine demokratische und menschenwürdige Gesellschaft, in der alle Menschen gleichberechtigt sind. Sie ist dankbar, dass sie mit ihrem Mann einen engagierten Begleiter an ihrer Seite hat. Und dass sie in einem Stadtteil zu Hause ist, in dem viele mutige, weltoffene Menschen leben.

Und dennoch zieht es die Schauspielerin hin und wieder weg vom Asphalt, raus aufs Land. Von der Altbauwohnung in die kleine Datscha in Wintermoor bei Schneverdingen. Das sei das Kontrastprogramm zur Großstadt, etwas für das Herz. „Manchmal“, sagt sie, „braucht das Auge Weite.“ Um genauer hinschauen zu können.

Michael Joho vom Einwohnerverein St. Georg übernimmt den roten Faden