Jürgen Bönig faszinieren seit Altonaer Kindertagen Menschen und Technik in Produktionsprozessen. Deshalb ist für ihn die Rolle als Kurator im Museum der Arbeit nicht nur irgendein Job, sondern Erfüllung. Ein Porträt von Hanna Kastendieck

Jeden Morgen geht er ein paar Schritte durch seinen kleinen Garten. Schaut, wie sich die Dinge dort entwickeln. Das ist in diesem Moment der eigentliche Luxus. Zu sehen, dass alles einen eigenen Anspruch hat, zu sein. „Das Spannende ist doch, die Dinge zu lassen“, sagt er. Zu betrachten also, ohne zu werten, einzugreifen oder gar zu korrigieren. Allein zum Thema Garten hat Jürgen Bönig zehn Regalmeter Fachliteratur angesammelt. Er will die Zusammenhänge verstehen.

Dabei geht es um weit mehr als das System Garten. Es geht um das große Ganze. Wie Gesellschaft funktioniert, wie Kulturen miteinander leben, wie sich die Menschen entwickeln und mit ihnen die Arbeit. Was machen Maschinen mit Menschen und Menschen mit Maschinen? Diese Frage treibt ihn um. Und überhaupt, welche Rolle die Arbeit im Leben spielt. „Arbeit ist das halbe Leben“, sagt er und ergänzt ironisch: „Und die andere Hälfte auch.“

Bönig ist Kurator im Museum der Arbeit. 1953 geboren. Einer, der von seinem Beruf erfüllt ist. Der im Gespräch immer wieder einen Bogen in die Historie schlägt. Ein wandelndes Geschichtsbuch. Er kennt die Arbeiterkultur in Hamburg um 1930 wie kaum ein Zweiter. Ist Experte der Geschichte der Rationalisierung und Fließbandarbeit, hat unzählige Bücher zum Thema Technik geschrieben, Publikationen begleitet über den Autoverkehr in Hamburg und kann, als Leiter des Grafischen Gewerbes im Museum, stundenlang über die Mechanisierung des Buchdrucks referieren. Mit einer Leidenschaft, die selbst den größten Geschichtsbanausen staunen lässt wie ein Kind. Mag ein Thema auch noch so kompliziert sein, er vermag es einfach auszudrücken.

„Hier“, sagt er und zeigt auf eine große schwarze Druckmaschine, die im ersten Stock des Museums steht, „das ist ein Heidelberger Zylinder. Damit drucken wir heute noch.“ Dann holt er ein großes, in gelbes Leinen geschlagenes Buch heraus. Es trägt den Titel „Kindheit“. Peggy Parnass hat es geschrieben. Die farbigen Holzschnitte stammen von Tita do Rêgo Silva. 1500 Exemplare wurden davon gedruckt. Ein kleines Kunstwerk, auf das Bönig besonders stolz ist. Weil es ihm die Hoffnung schenkt, dass die Buchkultur nicht aussterben wird. „Ich bin mir sicher, dass das Buch als besonderes Erlebnis bleiben wird.“

Er erinnert sich noch gut an den Geruch von Bronzeguss aus der Zeise-Fabrik

Seine private Bibliothek ist riesig. Er hat längst aufgehört zu zählen. Belletristik, Fachliteratur und natürlich die Gartenbücher. „Ich bin sehr inhaltlich fixiert“, sagt er. „Ich möchte wirklich etwas wissen.“ Das mache ihn glücklich: das Gespräch, die Erkenntnis, zu lesen und mit anderen darüber zu reden. Er tut das mit Freunden, mit seiner Frau Silke Koppermann, mit seinem Sohn Jakob, der 22 Jahre alt ist und „das Beste, was ich in meinem Leben geschaffen habe“. Jakob studiert, wie es sein Vater auch tat, Soziologie. Er lebt in Jena. Bönig selbst hat Hamburg nie verlassen. Weil er dort, in Altona, wo er geboren und aufgewachsen ist, dem Thema am besten nachgehen kann, das ihn seit seiner Kindheit fasziniert: der Arbeit.

Sie war da, überall sichtbar. Das bunte Treiben in den Hinterhöfen, kleinen Fabriken und Werkstätten des Altona der 50er-Jahre weckte schon als kleiner Junge seine Neugier.

Wo man hinging, sei man der Arbeit begegnet, erinnert er sich. Da waren die Pferdewagen für Kühne-Essig, die Brauereipferde, in der Luft lag der Geschmack von Bronzeguss der Zeise-Schraubenfabrik. An der Ecke im kleinen Milchladen wurde die Milch offen in Flaschen gefüllt. „Wir waren damals nah dran an den Herstellungsprozessen“, sagt er. Das habe ihn Ehrfurcht vor der Arbeit und den Wert der Arbeit gelehrt. Einen wilden Konsumismus hat er vielleicht gerade deshalb nie betreiben können. Und es interessiert ihn auch nicht, ob jemand viel Geld hat. „Ich schätze Menschen wegen eines gradlinigen Charakters, nicht wegen Kleidung und Besitz“, sagt er. „Und ich weiß, dass es viele Leute braucht, damit ich existieren kann.“ Man solle dankbar sein für die Arbeit anderer. Nicht so Ego-bezogen, nach dem Motto: Ich bestimme die Welt.

So denkt er. So handelt er. Sozial, nach Gerechtigkeit suchend. In den 80ern engagiert er sich mit Olaf Scholz für die 35-Stunden-Woche. Die beiden sind seitdem per Du. Der Bürgermeister ist Mitglied im Freundeskreis des Museums und kommt regelmäßig zu den von Bönig kuratierten Ausstellungen.

Mit Reemtsma baut er das Hamburger Institut für Sozialforschung auf

Auch seine Frau lernt Bönig bei einer der Solidaritätsaktionen der Gewerkschaft ÖTV kennen. Es vergehen Jahre, bis die beiden zusammenziehen. Erst als Sohn Jakob neun Jahre alt ist, beschließen die beiden zu heiraten. Bönig macht sich nichts draus, dass er manchmal weit ab von der Masse schwimmt. Er verzichtet aufs Auto, fährt Bahn und Fahrrad. Er tanzt sonntagabends mit seiner Frau Rumba und Cha-Cha-Cha. Und er hat nur einen wirklichen Wunsch für die Zukunft: dass die Buchdrucktechnik erhalten bleibt und die Maschinen nicht sterben.

Er ist erfüllt von dem, was er tut. Mit 19 lernte er Jan Philipp Reemtsma kennen. Den Philologen, Literaturwissenschaftler und Mäzen. Er schätzt ihn bis heute als klugen Gesprächspartner. Gemeinsam haben sie das Hamburger Institut für Sozialforschung aufgebaut, Bönig wurde 1983 erster Sekretär, bekam ein Promotionsstipendium. Gern hätte er auch später eine mitgestaltende Funktion am Institut übernommen. Doch er konnte seine ihm zugedachte Rolle nicht ausfüllen. Schließlich bekam er die letzte freie feste Stelle im Museum der Arbeit als Wissenschaftler. Er identifiziert sich sehr mit seiner Tätigkeit. Als die Idee eines Kulturspeichers für die vielen nicht ausgestellten Exponate der großen Hamburger Museen scheiterte, erlebte er das als große Niederlage. „Wir hatten ein altes Lagergebäude auf der Peute gefunden. Jetzt wird es gerade abgerissen.“ Das sei eine riesige verpasste Chance. „Wir hauen unsere eigenen Traditionen weg“, sagt er. Und wie so häufig gehe es hier rein um Symbolpolitik. „Die Form hat über den Inhalt triumphiert.“

Manchmal könnte er darüber bitter werden. Auch dass es kein Geld mehr für die Museen gibt. Dass es in den Stiftungen ausschließlich um die Frage gehe, wie man das nicht vorhandene Geld verwalte. „Inhaltliche Debatten finden so gut wie gar nicht mehr statt.“ Diese kann Jürgen Bönig dann als Dozent an der HafenCity-Universität mit seinen Studierenden der Q-Studies führen. Alles angehende Bauingenieure, Architekten und Stadtplaner, denen der Soziologe erklärt, welchen Einfluss die Form eines Gebäudes auf das Verhalten eines Menschen hat.

Bönig faszinieren diese Erkenntnisse. Zu sehen, was die Umwelt mit dem Menschen macht. Und wie sich die Dinge entwickeln. Als Jakob klein war, verkürzte der Vater seine Arbeitszeit und passte sein Tempo dem Sohn an. Er wollte das Jetzt intensiv wahrnehmen. „Das war“, sagt er rückblickend, „ein ungeheurer Genuss.“

Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, Besonderes für die Stadt leisten, als Vorbild gelten. Jürgen Bönig bekam den Faden von Ulrich Hoffmann und gibt ihn an Esther Bejarano weiter.