Jochen Kußmann, Chefarzt an der Schön Klinik in Eilbek, wollte Jazzer werden. Bis seine Eltern meinten, er solle doch was Ordentliches lernen. Hans-Juergen Fink über einen Mann, der gern neue Töne in der Medizin anschlägt – aber auch von der Musik nicht lassen kann.

Die Entscheidung fällt Jochen Kußmann nach der Beinahe-Begegnung mit einer Leitplanke. Tief in der Nacht noch die Rückfahrt von einem Jazz-Auftritt, denn am frühen Morgen soll der junge Arzt wieder in der Klinik stehen. Schwerer Unfall knapp vermieden. Als er durchatmet, erkennt er: „Du kannst nicht länger Musik und Medizin mit der gleichen Intensität machen.“ Die Trompete ist künftig nur noch die Nummer zwei in seinem Leben, er konzentriert sich fortan auf die Medizin.

Vielleicht aber braucht man beide Wurzeln, um den Weg so weiterzugehen, wie Jochen Kußmann ihn gegangen ist. Einen Weg, den nur ein guter Ensemblespieler gehen kann. Den Weg, der ihn dann bis zum Chefarzt-Posten des Endokrinen Zentrums der Schön Klinik in Eilbek geführt hat. Da baut er seit 2007 ein weit über Hamburgs Grenzen hinaus bekanntes Kompetenzzentrum für die Behandlung von Schilddrüsen, Nebenschilddrüsen oder Nebennieren auf. Mit inzwischen zwölf endokrinen Chirurgen, die im weiten Feld der Chirurgie nur auf diesem Spezialgebiet operieren. Sechs bis acht Schilddrüsenoperationen pro Jahr wurden an der Klinik früher gemacht, so viele sind es heute manchmal pro Tag. Mit der Folge, dass die Ärzte dort so schnell nichts mehr überraschen kann.

Das ist ein Weg, der in der heutigen Medizin als richtungsweisend gilt und auch von anderen – etwa den Spezialisten für Prostataerkrankungen in der Martiniklinik in Eppendorf – verfolgt wird. Kußmann will erreichen, dass nicht mehr die Fachrichtung eines Arztes über die künftige Behandlung entscheidet: „Bei uns sollen Chirurgen, Internisten und Nuklearmediziner gemeinsam über die beste und schonendste Behandlung beraten.“ Miteinander kommunizieren, aufeinander hören und schnell reagieren – das lernt man als Musiker.

Dass er mal Chefarzt sein würde, war dem 1952 geborenen Kind eines Kriminalbeamten aus Duisburg-Rheinhausen („ein Schimanski-Vorgänger sozusagen“) nicht in die Wiege gelegt worden. Er liebt Musik, lernt am Konservatorium Duisburg, ist bald vom Jazz fasziniert, vom Improvisieren. Als er das zum Beruf machen will, fragen die Eltern, ob er nicht etwas Ordentliches machen könne.

Naturwissenschaften liegen ihm. Vielleicht Biochemie? Oder Kybernetik? „Da war so wenig soziales Engagement dabei. Und darauf hat man 1968 geschaut – gerade in Rheinhausen, wo nicht so viel Geld das Leben versüßt.“ Medizin also, das ist näher bei den Menschen. Studium in Essen, Vorklinik in Bochum. Kußmann spielt weiter in Jazzclubs, finanziert einen Teil des Studiums durch Theatermusik. „Das war ein guter Kontrapunkt zu meiner sehr strukturierten, selbstdisziplinierenden Arbeit sonst.“ Er fährt zweigleisig, bis die Leitplanke eine Entscheidung nahelegt.

Ein begnadeter Lehrer bringt ihn zur Chirurgie. Zu sehen, wie eine verpflanzte Niere im Körper des Empfängers wieder zu arbeiten beginnt, fesselt ihn. Kußmann beschäftigt sich mit Transplantationen, wird „Reisebegleiter“ für Spenderorgane, schreibt seine Doktorarbeit über das Frischhalten solcher Organe. Er zeigt: Eine Kühlbox mit Eis reicht vollkommen aus, die Maschinen von früher sind überflüssig.

Seine erste Stelle bekommt er in Wuppertal. Dort gibt es eine der größten chirurgischen Abteilungen. Wuppertal ist aber auch ein Mekka des Freejazz. Er lässt sich Namen wie Peter Brötzmann, Peter Kowald, Rüdiger Carl auf der Zunge zergehen. Bis 1989 bleibt er dort, elf Jahre, in denen er auch seine Habilitation schreibt. In Marburg kann er dann bald seine Antrittsvorlesung halten, mit der er später zum Professor wird.

Längst aber hat sich, während eines Aufenthalts rund um einen Vortrag, Hamburg als Ziel bei ihm festgesetzt. Die grüne Stadt, Alster, Segelboote, Kirschblütenfest, die Villen am Leinpfad. Als er 1995 die Chance sieht, zögert er nicht und geht nach Wandsbek, als Chef der Chirurgie. Endokrinologie ist dort eines der Standbeine, bald wächst in Kußmann die Idee des Endokrinen Zentrums, das er dann in Eilbek aufbaut und leitet. Die Idee leuchtet ein: „Mediziner würden ja auch immer zu Ärzten gehen, die die größte Erfahrung auf einem Gebiet haben.“

Warum ein Arzt bei der Begrüßung des Patienten feuchte Hände haben sollte

Kußmann will aber noch mehr: eine Medizin, die dem Patienten die Angst nimmt und ihn zum Partner und Helfer der Ärzte macht. Er richtet sein Zentrum konsequent danach aus. Was das heißt? „Anklopfen zum Beispiel, bevor man das Krankenzimmer betritt.“ Und dann auch noch abwarten, bis der Patient „herein“ ruft. „Das war in Wandsbek damals ein echtes Novum. Es kann Jahre dauern, bis jeder Mitarbeiter der Klinik, vom Reinigungspersonal bis zu den Ärzten, das verinnerlicht hat.“ Eine Kleinigkeit nur, aber die Patienten fühlen sich als Menschen respektiert.

Denen wiederum schärft er ein, darauf zu achten, ob die Ärzte bei der Begrüßung feuchte Hände haben. Vor Nervosität? „Nein, weil sie dann frisch desinfiziert sind.“ Er selbst trägt keinen Arztkittel in der Sprechstunde, „Angst haben die Patienten genug.“ Er hilft ihnen, ihre Krankheit und die Behandlung zu verstehen. „Sie sollen den OP-Tag nicht als Gang zum Schafott sehen, sondern als den Tag, an dem sie etwas loswerden, was sie definitiv nicht brauchen. So können sie aktiv an ihrer Genesung mitarbeiten.“

Er verändert gern, was ihm nicht passt, davon gibt es noch einiges. „Wir wollen die jeweils beste Therapie finden, nicht die lukrativste. Das Entgeltsystem darf nicht überflüssige Operationen belohnen, sondern Qualität. Wo kommen wir hin, wenn derjenige gut bezahlt wird, der viele Komplikationen verursacht, die Nachoperationen nötig machen?“ Er setzt auf akribisches Risiko- und Qualitätsmanagement. „Wir publizieren unsere Qualitätszahlen. Da sind wir tagesaktuell.“ Stolz fügt er hinzu: „Und ziemlich weit vorn mit unseren Ergebnissen.“

Steht da ein Gesundheitspolitiker in den Startlöchern?

Kußmann mischt sich in die Diskussion um Sterbehilfe ein. Er hält auch Vorträge über „Waste Avoidance“, „über das Weglassen von Dingen, die nachgewiesenermaßen Quatsch sind in der Medizin. In den USA geht man davon aus, dass man so 30 Prozent der Kosten im Gesundheitssystem sparen kann. Bei uns wären das 100 Milliarden Euro.“

Sein Zentrum liegt mit den Sachkosten für eine Schilddrüsen-Operation deutlich unter denen der Kalkulationskliniken. „Weil wir auf vieles verzichten, was die Medizingeräte-Industrie an Gimmicks anbietet.“ So kann man sich rasch unbeliebt machen. Bei Kollegen, bei Klinikverwaltungen, nicht zuletzt bei der Pharma- und Medizingeräte-Industrie.

Derzeit hat er – „nur noch“ – einen etwa zwölfstündigen Arbeitstag. Wo bleibt da die Musik? „Gestern spätabends hab ich zu Hause in Winterhude ein bisschen Trompete gespielt, nur für mich.“ Ausweichprogramm zum Segeln auf der Alster, wo sein Boot beim Hamburger Segelclub liegt. Beim Elbjazz-Festival war er mit seiner Frau Christina Ahlborn („wir haben im Januar geheiratet“) und hat dort im „Golem“ Alexander von Schlippenbach und Paul Lovens gehört, mit denen er früher auf der Bühne stand – „ein Spürchen Wehmut, ja“.

Dafür sieht er mit Freude, dass seine beiden Kinder aus erster Ehe das Künstlerische zum Beruf machen konnten. Seine Tochter Lena ist Schauspielerin in Hannover und hat großen Erfolg mit dem Stück „Lassen Sie mich durch, ich bin Arzt“. Sohn Paul entwirft für ein Start-up-Unternehmen Motive für Snowboards und hilft bei der Öffentlichkeitsarbeit.

Jochen Kußmann hat sich im vergangenen Jahr eine neue Trompete gekauft. Und ist damit auch aufgetreten: in der Kirche, bei der Weihnachtsfeier seiner Rotarierfreunde.

Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, Besonderes für die Stadt leisten, als Vorbild gelten. Jochen Kußmann bekam den Faden von Abi Wallenstein und gibt ihn an Stephan Samtleben weiter.